Ingrid Tschugg

Erste Begegnung - Reichenau in Bildern      Zu den Bilddokumenten  Bilddokumente

In der Zeit meines Studiums in Innsbruck lernte ich einige Innsbrucker Stadtteile selbst kennen – Kranebitten, Wilten und Hötting. Die Reichenau war für mich Neuland, nie habe ich in der Reichenau gewohnt und eigentlich hatte ich auch kaum Kontakt zu diesem Stadtteil.

Am Beginn des Kennenlernens stand neben Spaziergängen durch die Reichenau das Lesen von Literatur über die Geschichte der Reichenau sowie von Zeitungsartikeln. In einem nächsten Schritt entdeckte ich diesen Stadtteil über Fotografien aus dem umfangreichen Privatarchiv von Walter Kreutz. Einige dieser Bilder waren Teil der Fotoausstellung "Reichenau ALT & NEU – eine Fotoausstellung", die gemeinsam mit der Stadtteilkoordinatorin Andrea Rumpold zusammengestellt wurde und ab dem 24. Mai 2000 im Foyer des Wohnheim Reichenau gezeigt wurde. (Abb. 2 und 3)

Die Ausstellung selbst bestand aus zwei Bereichen. In einem historischen Teil wurde an Bildern aus dem Privatarchiv von Walter Kreutz die bauliche Entwicklung der Reichenau nachvollzogen. Für die Gestaltung des zweiten Bereichs hatte Andrea Rumpold Kontakte zu Jugendlichen hergestellt, die in einer modernen Collage von Bildern ihre Eindrücke vom Leben in dem sehr jungen Stadtteil Reichenau präsentierten. SchülerInnen der Hauptschule Reichenau zeigten in ihren Fotographien die Entwicklung der Reichenau nach dem Motto "Vom Grün zur bebauten Reichenau heute". (Abb. 4)

Beeindruckend waren auch die Installationen der Jugendgruppe Space des Kinder- und Jugendzentrum St. Paulus. In einer Installation machten sie die Geschichte der Reichenau zum Thema – sie erinnerten an das Arbeitserziehungslager Reichenau und verwiesen somit auf die Bedeutung der Geschichte des Nationalsozialismus für diesen Stadtteil, der nach Vorgabe nicht Thema des Projektes sein sollte. (Abb. 5) Der nächste Schritt beim Kennenlernen dieses Stadtteils bestand nun darin, mit BewohnerInnen der Reichenau im Rahmen von sechs Erzählcafés vom 6. Juni bis zum 11. Juli 2000 selbst ins Gespräch zu kommen und die Texte und Bilder mit ihren Erzählungen und Erinnerungen an den rasanten Wandel dieses Stadtteils zu füllen.

Wandel in der Reichenau

Innsbruck im Sommer ist voll von TouristInnen. Eine genauere Beobachtung der BesucherInnen der Stadt zeigt jedoch, dass sich deren Wege geleitet von Informationen in Reiseführern auf die Altstadt und eventuell noch auf den Stadtteil Wilten konzentrieren. Auf Hötting wird meist nur von der Altstadt über den Inn hinweg geblickt. Abgesehen von den Vorteilen dieser Konzentration auf die Innenstadt – in den übrigen Stadtteilen genießen deren BewohnerInnen weitgehend Ruhe – verdeckt dies auch den Blick auf die Geschichte der übrigen Stadtteile Innsbrucks, unter anderem auch der Reichenau. So finden sich auch in Stadtführern wenige Informationen zum Wandel der Reichenau, den eine Teilnehmerin der Erzählcafés zu Recht als rasant bezeichnete – es ging schnell und doch zu langsam für diejenigen, die nach den Jahren des Zweiten Weltkrieges dringend eine Wohnung benötigten.

Die Geschichte der Reichenau beginnt jedoch nicht erst im 20. Jahrhundert. Schon im 15. Jahrhundert ist der sogenannte Gutshof in Akten verzeichnet, der für die Versorgung des landesfürstlichen Hofes mitzuständig war. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befand sich in der Reichenau der Flughafen. Die Bebauung begann erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Gutshof

"Es gehört zum Reiz der landschaftlichen Schönheit unserer Heimatstadt und war zugleich die notwendige Vorbedingung ihres Anwachsens und damit ihres Aufschwunges, daß sich hier das Inntal in behaglicher Breite ausdehnt, daß die Bergketten auf beiden Seiten zum Teil einige Kilometer weit auseinandergerückt sind. Wo die Straßenzüge der Stadt und ihrer anschließenden Vororte im Osten enden, dort dehnt sich in dieser sonnigen, weiten Ebene größtenteils Wiesenfläche aus, welche innerhalb eines Gebirgslandes als gut bezeichnet werden kann; der feuchte, vor Zeiten wohl zum Teil versumpfte Boden läßt prächtiges Gras wachsen."

So beschrieb Hans Kramer 1934 das Gelände, auf dem der ehemalige Gutshof, ein Viehhof stand. Die Bebauung der Reichenau begann 1952 auf dem Gelände des damals noch bestehenden Gutshofes – ein Grund für einen Rückblick auf die Geschichte dieses Gebäudes, an das heute noch der Gutshofweg erinnert. (Abb. 6 und 7)

Der Gutshof – gelegen an der heutigen Reichenauer Straße, die seit 1954 von der Pradler Straße abbiegt – hatte wohl schon 1461 Bestand, zumindest wurde in diesem Jahr der Gemüsegarten des Gutshofes in einer Urkunde erwähnt. Erstmals genannt wurde der Gutshof selbst im Jahr 1510. Bis zum Jahr 1666 war der Gutshof in landesfürstlichem Besitz und war neben dem Maierhof in Amras, dem Rechenhof und dem kleinen Kerschbuchhof mitzuständig für die Versorgung des landesfürstlichen Hofes. Nach dem Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger 1665 wurde der Gutshof verkauft und befand sich nun bis 1812 im Besitz der Grafen von Spaur, die das im Jahr 1968 abgerissene Lustschlösschen für den Landaufenthalt der Familie errichteten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wechselte der Gutshof mehrmals die Besitzer, bis ihn die Stadt Innsbruck im Jahr 1902 unter Bürgermeister Wilhelm Greil ankaufte. Der Gutshof war teilweise zuständig für die Milchversorgung der Stadt. Große Bedeutung für die Versorgung der BürgerInnen der Stadt erhielt der Gutshof in den Notzeiten während und nach dem 1. Weltkrieg und vermutlich auch im 2. Weltkrieg.

Erste Einschränkungen erfuhr der Gutshof schon 1904 durch die Errichtung der städtischen Wasenmeisterei nördlich der Gutsgebäude, knapp an der Sillmündung. Die Errichtung des Flughafens im Jahr 1925 in der Reichenau bedeutete eine weitere Einschränkung des Kulturlandes am Gelände des Gutshofes. Der am 1.6.1925 eröffnete Flughafen hatte große Bedeutung für das Verkehrs- und Sportflugwesen in Tirol. Innsbruck wurde damals von drei Linien angeflogen – von Wien, München und Zürich aus. Die Piloten wurden für die Alpenfahrten besonders ausgewählt. Der Flughafen bestand aus zwei großen Hangars, aus einem Gebäude der Flugleitung und einer Graspiste. Während des 2. Weltkrieges wurde der Flughafen in der Reichenau endgültig aufgelassen und 1947 in die Höttinger Au verlegt.

Dazu Hans Kramer 1934:

"Trotzdem heute der Flughafen dicht neben dem Hof liegt, ist dieser heutzutage doch recht einsam geblieben. Er liegt an keinem auffallenden Punkt. Und doch ist es ein gemütlicher Spaziergang, dem rechten Ufer der Sill entlang zu promenieren, sich dann rechts zum Hof hinüber zu wenden und dann in die Ambraser Felder hinauszugehen; dort kann man stehenbleiben und sich an einem klaren Tage des wundervollen Panoramas der Berge unserer Heimatstadt erfreuen."

1950 wurde der landwirtschaftliche Betrieb am Gutshof, an dessen Gebäude sich die TeilnehmerInnen der Erzählcafés noch erinnern, aufgelassen. Der Wandel in Tirol von einer Gesellschaft, die durch die Landwirtschaft geprägt war, hin zu einer industrialisierten Gesellschaft, in der hauptsächlich der Dienstleistungssektor eine große Bedeutung einnimmt, vollzog sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, großteils erst nach dem 2. Weltkrieg im Zuge des sogenannten "Wirtschaftswunders" in den 1950er und 1960er Jahren in Österreich. Die Landwirtschaft und somit auch Betriebe wie der Gutshof verloren in der Entwicklung Innsbrucks zunehmend an Bedeutung. Beeindruckend war in diesem Zusammenhang für eine Teilnehmerin des Erzählcafés am 13. Juni 2000 die Erinnerung an das "einmalige" Bild von 3000 weidenden Schafen in der Tiroler Tageszeitung aus dem Jahr 1958. In dieser Zeit war in der Reichenau "... nur Wiese, Wiese, Wiese!" Als die Gebäude des Gutshofes, die bis ins 20. Jahrhundert hinein das einzige Gebäude der Reichenau waren, von 1968 bis 1970 schließlich abgerissen wurden, war der Gutshof schon umgeben von dem rasant wachsenden Stadtteil Reichenau.

Wege in die Reichenau

Eine der wichtigen Straßen in der Reichenau trägt interessanterweise den Namen der Begründer Innsbrucks – die Andechsstraße. Im 12. Jahrhundert war den Grafen von Andechs ihre Siedlung am linken Innufer, das heutige St. Nikolaus, zu eng geworden; sie errichteten auf dem Boden der heutigen Altstadt eine Burg und einen Markt. Anfang der 50er Jahre im 20. Jahrhundert hatte die Stadt Innsbruck wieder zu wenig Wohnraum für ihre BürgerInnen, sodass auf der südlichen Seite von Sill und Inn die Stadt erweitert wurde. In rasantem Tempo wurde die Reichenau errichtet. (Abb. 8)

Die Teilnehmerinnen der Erzählcafés erinnern sich daran, wie genau die Bauentwicklung in der Reichenau beobachtet wurde, da so viele auf eine Wohnung warteten. Wohnungen waren rar und auch teuer, dies spiegelte sich in den Schilderungen wider. Eine Teilnehmerin schilderte das beengte Leben mit den Kindern in der alten Wohnung, die vielen Bitten bei StadtpolitikerInnen um eine neue Zuweisung zu einer Wohnung. Und schließlich das Glück eine Wohnung erhalten zu haben – "Trotzdem wir wieder beengt gewohnt haben, aber doch, ein Bad, das war ja schon ein Luxus!" –, so eine Teilnehmerin des Erzählcafés am 6. Juni 2000 über ihren Einzug in die Reichenau im Jahr 1958. Als besonders faszinierend wurde empfunden, dass in der Reichenau viele Leute aus den unterschiedlichen Innsbrucker Stadtteilen zusammenkamen, da damals ja nur in der Reichenau gebaut wurde.

Es zeigt sich eine Entwicklung, die nicht von allen positiv gesehen wurde. Gert Müller zitiert dazu Johann Bock:

"'Wir haben alles gehabt, was wir brauchten. Und schön war es damals. Wir haben vor dem Haus hocken können, haben die Wiesen und Felder gesehen und die Leut’ beim Spazierengehen. Die Schwalben sind geflogen und die Rappen, die Grillen haben gezirpt und eine gute Luft haben wir gehabt. Und jetzt ist alles hin, vergast, vergiftet und wir haben einen Dreck!'"

 

Siedlung in der Au – die "Bocksiedlung" oder "Das 'wilde' Innsbruck ist Vergangenheit." (TT)

Ein Thema, das fast alle meine Gespräche über die Geschichte der Reichenau bestimmte, waren Erinnerungen an die in Innsbruck unter dem Namen "Bocksiedlung" bekannte Siedlung in der Au. In der Tiroler Tageszeitung vom 14. Juni 1983 ist dazu zu lesen:

"Nur die wirklich Alteingesessenen können Auskunft geben: Die Siedlung erstreckte sich auf dem Gelände zwischen Langem Weg, Andechsstraße, Klappholzstraße, wo heute Hochhäuser und Gewerbebetriebe stehen. Die 'Bockeler' sind aber heute noch ein Begriff."

Die Menschen in der Bocksiedlung verzichteten auf Komfort, soziale Sicherheit und gesellschaftliches Ansehen zu Gunsten eines weitgehend eigenbestimmten Lebens. Sie werden beschrieben als "Herren ihrer Zeit", genannt die "Bockeler". Ihren Lebensunterhalt verdienten sie, da sie meist keiner geregelten Arbeit nachgehen konnten, als Gelegenheitsarbeiter, Händler, Musikanten und Kleinbauern. Die BewohnerInnen der Siedlung in der Au kamen vor allem aus dem Oberland und aus Hötting. Zeitweise lebten bis zu 200 Menschen in der "Bocksiedlung". In den 1960er Jahren endete die "Idylle" durch die fortschreitende Bebauung der Reichenau. Viele BewohnerInnen zogen weg. 1968 lebten nur mehr sieben Familien dort, viele Häuser waren nur mehr Ruinen. Im Jahr 1970, als die Gebäude des Gutshofs abgerissen wurden, war die Siedlung Vergangenheit.

Ihren Namen hatte die Bocksiedlung von Johann Bock erhalten, der unter den BewohnerInnen der Siedlung großes Ansehen genoss. Der erste Siedler war Otto Salcher und zwar seit 1923; er war Kellner, damals ohne Arbeit und Unterkunft, weshalb er sich in einem Wohnwagen in der Au niederließ. 1930 kam dann Johann Bock neu hinzu, der Betreiber einer Frächterei war und mit seinen Pferden und Fuhrwerken im Besitz eines Bauernhauses war. Seinen festen Wohnsitz hatte Johann Bock in der Pradlerstraße. Sein "Häuschen in der Au" vermietete er bis gegen Ende des 2. Weltkrieges, dann musste er selbst wegen eines Bombenschadens am Gebäude in der Pradlerstraße in die Au ziehen. Bock genoss als "Großbauer" und wegen seines Auftretens Ansehen, er galt als der "ungekrönte König der Siedlung" und war in Innsbruck bekannt. Mit den Ordnungshütern kam er mehrmals in Konflikt – Geschichten, die auch in der Erinnerung der ReichenauerInnen wieder aufleben –, aber da er in der "Bocksiedlung" für Ordnung sorgte, genoss er Narrenfreiheit. Johann Bock wird beschrieben als ein "Innsbrucker Original", er war in den Geschäften und Wirtshäusern gerne gesehen. Die Söhne von Johann Bock – Hermann und Eugen – gaben als Boxsportler Gastspiele.

Zu den weiteren Originalen, die in dieser Siedlung lebten zählten der Kunstschlosser Hans Pinzger sowie die Familie Giulliani. Heinrich Giulliani war 1930 in die "Bocksiedlung" gezogen. Das Haus der Giullianis war architektonisch interessant, da es an die Bauerngehöfte in Nepal erinnerte. Erich Giulliani, genannt 'Tschulli', war Kunstmaler, Schnitzer und Musiker. Mit seinen Gitarren-Soli ist er in Radio Tirol aufgetreten und wirkte als Filmschauspieler in dem Film "Bergwind" von Heinrich Klier als Hüttenwirt mit.

Neben der Bocksiedlung bestanden in der Reichenau lange Zeit noch eine Wohnwagensiedlung und die Barackensiedlung auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitserziehungslagers Reichenau der Gestapo. Nach dem Krieg errichtete die Widerstandsbewegung im Lager ein Internierungslager für NationalsozialistInnen. Ab Juli 1945 diente das Lager als Transitlager für die Rückführung sogenannter "displaced persons", die sich auf Grund der Kriegsereignisse fern der Heimat befanden. Wegen der großen Wohnungsnot wurden die Baracken schließlich als Notunterkünfte verwendet. 1948 gab es eine Baracken-Notkirche, die Kirche zum heiligen Kreuz. Die Baracken, in denen bis zu 1000 Wohnungssuchende lebten, wurden erst im Zuge der Errichtung des Städtischen Bauhofes in den Jahren 1968 bis 1970 abgerissen. Diese Barackensiedlung in dem ehemaligen Arbeitserziehungslager Reichenau wird in schriftlichen Quellen als viel desolater beschrieben. Oft werden in den Erinnerungen diese Barackensiedlung und die sogenannte "Bocksiedlung" gleichgesetzt.

Erinnerungen an die "Bocksiedlung"

In den Schilderungen im Rahmen der Erzählcafés spiegeln sich wie in Berichten in Zeitungsartikeln Unsicherheiten, Ängste und Vorurteile im Leben neben den BewohnerInnen der sogenannten "Bocksiedlung" wider. (Abb. 9 und 10) Gerade deshalb ist es wohl auch schwierig für BewohnerInnen der ehemaligen "Bocksiedlung" ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu schildern. Als sehr positiv und interessant wurde es im Rahmen der Erzählcafés empfunden, dass ein Teilnehmer, der in den 1950er Jahren in der "Bocksiedlung" aufgewachsen war, uns über seine Kindheitserinnerungen erzählte. Er schilderte die Schulbesuche in der Renner-Schule, beschrieb die schönen Seiten im Leben in der Siedlung – das Reiten, das Schwimmen in einem Wiesensee, der in der Nähe des Schießstandes bei viel Regen entstand, das Leben mit den Tieren in den Feldern und Wiesen der Au. Er erinnerte sich an die Eisenbahn, die durch die Reichenau fuhr, sowie an die anderen BewohnerInnen der "Bocksiedlung", die er als "Bockeler", "Karner" oder "Laninger" bezeichnete. Auch heute noch, nach der Zerstörung der "Bocksiedlung", besteht Kontakt unter deren BewohnerInnen. Die TeilnehmerInnen, die die "Bocksiedlung von außen kennengelernt hatten, erlebten, dass durch das gemeinsame Gespräch falsche Vorstellungen und Vorurteile abgebaut werden können.

Eindrücklich in Erinnerung blieb mir ein Bericht im Tiroler Anzeiger aus dem Jahr 1932 über die "Kolonistensiedlung Reichenau" – vermutlich die "Bocksiedlung" (Besuch im jüngsten Dorfe Tirols, in: Tiroler Anzeiger, 1.6.1932, Nr. 124, S. 5). Der Autor dieses Artikels beschreibt ein Gespräch mit dem "Bürgermeister" dieser Siedlung: Von 12 Siedlern sind 11 arbeitslos, einer arbeitet bei der Wach- und Schließgesellschaft als Nachtwächter. Fast alle sind ausgesteuert. Das Geld der Unterstützung geht in den Hausbau. Daneben ist noch die Familie zu erhalten. Aus einem Gespräch mit dem "Bürgermeister" und dessen Frau zitiert der Autor des Artikels im Tiroler Anzeiger:

"Bürgermeister": "Wenn man mit dem Geld nicht schnell geht, dann bleibt einem nichts mehr."

Frau von "Bürgermeister": "Wissen Sie, wieviel ich jetzt noch für die ganze Woche zum Leben hab? Zwei Schilling und 35 Groschen. Das reicht gerade für die Milch fürs Kind" sagt seine Frau. "Wir sind aber da heraußen recht zufrieden. Bevor wir hier zu arbeiten angefangen haben, wohnten wir in einem Keller."

"Bürgermeister": "Wir sind keine Karner und Dörcher". [...] "Im Gegenteil, wir sind grundbescheidene Menschen, die sich zum Grundsatze gemacht haben: Mensch, hilf dir selbst. [...] Und übrigens, wir haben keine Angst, daß wir nicht zu leben hätten. Jetzt gibt’s Zichoriensalat auf der Wiese. Dafür haben wir aber im Herbst unser Häuschen fertig. Ich habe bei einem Bau einige Fenster billig zu kaufen bekommen. Daraus mache ich jetzt vors Haus einen Glasbalkon und die Frau muß eine Waschküche kriegen."

Auch in diesem Gespräch spiegelt sich die Freude über die Verbesserung der Lebenssituation durch den Umzug in die Reichenau wider – in dieser Schilderung von einem Keller, der sich schlecht auf die Gesundheit auswirkt, in ein selbst gestaltetes Haus. Dies spiegelt eine Freude über die verbesserte Wohnsitutaion wider, wie sie mir in den Erzählcafés über das Entkommen aus beengten Wohnverhältnissen in eine Wohnung in einem Reichenauer Hochhaus vermittelt wurde.

Der Bericht des Autors vom Besuch in dieser Siedlung endet mit folgender Feststellung:

"Was man von diesen Menschen lernen kann, ist die Zufriedenheit. Zufriedenheit mit dem bißchen, das man hat, macht das Glück aus. Dieses Vertrauen auf sich selbst ist es, was man bewundern muß."

 

Abbildungen

Abb. 2 und 3:
Ausstellung im Foyer des Wohnheim Reichenau
Foto Monika Tschugg

Abb. 4:
"Vom Grün zur bebauten Reichenau heute" (Hauptschule Reichenau)
Foto Monika Tschugg

Abb. 5:
Installation der Jugendgruppe Space des Kinder- und Jugendzentrum St. Paulus
Foto Monika Tschugg

Abb. 6
Gutshof mit Flugplatz und Foradorifabrik von oben (Privatarchiv Walter Kreutz)

Abb. 7
Gutshof im Dezember 1956 (Sammlung Reuter/Kreutz)

Abb. 8
"Die Verbauung der Reichenau beginnt." Neubau in der Kärntnerstraße, 1957. (Foto Architekt Reuter, Privatarchiv Walter Kreutz)

Abb. 9
Die Linie R biegt im November 1968 vom Langen Weg in die Radetzkystraße ein. Links sind noch Reste der Bocksiedlung zu sehen. (Privatarchiv Walter Kreutz)

Abb. 10
Bocksiedlung (Sammlung Reuter/Kreutz)

 

Zum Nachlesen:

Tschugg, Ingrid: Reichenau – ein Stadtteil im Wandel, in: Gensluckner,
Lisa/Schreiber, Horst/Tschugg, Ingrid/Weiss, Alexandra (Hg.):
Gaismair-Jahrbuch 2002. Menschenbilder – Lebenswelten, Innsbruck 2001,
S. 114-121

In der Reihe "Zeit-Raum-Innsbruck", herausgegeben vom Stadtarchiv Innsbruck, ist ein Beitrag über die "Lebendige Geschichte der Reichenau" in Vorbereitung.

 

Literaturhinweise

Glattauer, Herbert O.: Innsbrucker Straßennamen erzählen, Innsbruck 1994

Hye, Franz-Heinz: Die Geschichte der Reichenau, in: 25 Jahre Landesgedächtniskirche und Pfarre St. Paulus, Innsbruck 1985, S. 20-25

Hye, Franz-Heinz: Innsbruck und seine Stadtteile in historischen Bildquellen, Innsbruck 1996

Kofler, Christian: Der Mensch ist, was er ißt: Nahrungsmittel, Gifte und Surrogate, in: Dietrich, Elisabeth (Hg.): Stadt im Gebirge: Leben und Umwelt in Innsbruck im 19. Jahrhundert, Innsbruck 1996, S. 95-110

Kramer, Hans: Der Gutshof in der Reichenau, in: Tiroler Heimatblätter, 12. Jg, Heft 2/3, Innsbruck 1934, S. 153-157

Müller, Gert: Als die Reichenau noch reich war ..., in: Gaismair-Gesellschaft; Almud Magis, Bernhard Nicolussi Castellan (Hg.): Ansichtssachen. 61 Gründe, Innsbruck zu verlassen oder dazubleiben, Innsbruck 1996, S. 170-176

 

Zeitungsartikel

Kolonistensiedlung Reichenau. Besuch im jüngsten Dorf Tirols, in: Tiroler Anzeiger, 1.6.1932, Nr. 124, S. 5

Kainrath, Ernst: Kleinkinder und Ratten in elenden Wohnräumen. Die wilde Bocksiedlung und das Reichenauer Wohnlager. Unvorstellbares Elend. Binnen Jahresfrist sollen fünf Baracken verschwinden, in: TT, Nr. 210, 10.9.1960, S. 6

Die letzten Baulichkeiten der Innsbrucker Bocksiedlung, in: TT 1970, Nr. 103, S. 5

Als die Bocksiedlung brannte. Innsbrucks "Hochhauszeitalter" begann im Sommer vor 20 Jahren, in: TT, 14.6.1983, Nr. 135, Innsbruck aktuell, Nr. 24, S. 1