Von
Dr. Valentin Faltlhauser
(Aus der mittelfränk. Heil-u. Pflegeanstalt Erlangen)
Überblicken wir die gesamte Paraldehyd-Literatur seit Einführung des 1882 von Dervello empfohlenen und von Morselli zuerst am Menschen praktisch erprobten Mittels in den Arzneischatz, so beschäftigen sich naturgemäß die meisten Arbeiten mit den physikalischen, chemischen und physiologischen Eigenschaften des Paraldehyds (Cervello, Dujardin-Beaumetz, Lewin, Rank, Friedländer, Langreuter, Morselli und viele andere). Ich glaube diese Arbeiten mit gutem Gewissen übergehen zu dürfen. Sie gehören nicht unmittelbar zu dem von mir behandelten Thema und haben außerdem durch Bumke eine außerordentliche übersichtliche Darstellung erfahren.
Mehr interessieren hier schon die akuten Vergiftungen, die von einzelnen Autoren beschrieben wurden.
Was zunächst die im Tierexperiment absichtlich herbeigeführten Vergiftungen mit Paraldehyd anlangt, so sind es die der Einführung des Mittels unmittelbar vorangehenden und folgenden Arbeiten, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben.
Cervello erzeugte bei seinen Tieren nach stärkeren Gaben Paraldehyd Aufhebung der Reflexe und Verlangsamung der Atmung. Der Tod erfolgte durch Lähmung des Atemzentrums. Es folgerte aus seinen Tierversuchen, daß das Paraldehyd schon in mittleren Gaben auf das Nervenzentrum überhaupt, vorzugsweise aber auf das Gehirn wirkt, während größere Gaben das Rückenmark stark beeinflussen und die Reflextätigkeit aufheben, zuletzt das Atemzentrum lähmen.
Gordon sah bei seinen Tieren, bei denen Paraldehyd in tödlicher Dosis angewendet wurde, Herabsetzung der Schmerzempfindung, weiterhin Reflexstörungen im Sinne eines Erlöschens derselben und endlich Exitus. Auch dieser Autor konnte aufgrund seiner Experimente nachweisen, daß der Tod durch Lähmung der Atmung eintrat.
Prevost konnte an seinen Fröschen, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten und Katzen ebenfalls bestätigen, daß der Paraldehydtod durch Lähmung des Atemzentrums erfolgt. Seine Beobachtungen bezüglich des Verhaltens der Reflexe zeigten, daß die Patellarsehnenreflexe zu allerletzt verschwinden; sie sind auch dann noch vorhanden, wenn der Cornealreflex bereits gänzlich aufgehoben und die Atmung nur mehr sehr schwach und oberflächlich ist.
Fröhner machte mit Paraldehyd Versuche an Pferden und Hunden. Er gab Pferden bis zu 500g pro Dosis und sah bei diesen Tieren Methämoglobinämie und Methämoglobinurie auftreten. Er glaubte, dieses Verhalten der Pferde auf ihre Eigenschaft als Pflanzenfresser, die alle zu Hämglobinämie neigten, zurückzuführen zu dürfen, um so mehr, als bei seinen Versuchen an Hunden diese Erscheinungen nicht auftraten. Dagegen wurde bei Hunden durch länger fortgesetzten Verbrauch von Paraldehyd Symptome hervorgerufen, welche Ähnlichkeit mit perniziöser Anämie hatten, verbunden mit Poikilocytose und Alubuminurie.
Auch Henocque und Quinquaud untersuchten die Wirkung des Paraldehyds speziell auf das Blut. Sie kamen zu widersprechenden Resultaten. Quinquaud wollte nach Einspritzung des Paraldehyds in die Venen ein Schwarzwerden des arteriellen Blutes gesehen haben, währende Henocque bei seinen Versuchen nach Subcutaneinspritzungen eine Verminderung und ein Schwinden der Oxyhämoglobinstreifen im Spektrum feststellen konnte.
Bokai und Barcsi beobachteten, daß dem Erlöschen der Reflexe zunächst eine beträchtliche Steigerung derselben vorangeht. Auch Konrad hatte schon früher im Gegensatz zu Cervello betont, daß Paraldehyd vor Eintritt der hypnotischen Wirkung eine Erregung erzeuge. Bokai und Barcsi konnten bei ihren Paraldehydversuchen auch eine wesentliche Beeinflussung der Darminnervation hervorrufen. Große Gaben Paraldehyd lähmten zeitweise den darmhemmenden Nervenapparat. Beide Autoren prüften auch die Veränderungen, welche die chronische Paraldehydvergiftung im Tierkörper erzeugt. Sie führtem einem Kaninchen von 2400g Gewicht mittels der Schlundsonde täglich 2,0 Paraldehyd zu. Das Tier lebte 40 Tage. Bei Vergrößerung der Gabe auf 4,0 verkürzte sich die Lebensdauer auf 20 Tage. Die Versuchstiere magerten stark ab und ihre Körpertemperatur stieg zunächst auf 38,5 bis 39,8 Grad Celsius, sank dann aber unter die Norm. Weiterhin traten Albuminurie, Katarrh der Luftwege, fettige Entartung des Herzens und der Leber und schließlich Lungenödem auf. Die Verfasser fanden auch, daß die narkotische Wirkung des Paraldehyd um so rascher und andauernder eintrat, je weiter fortgeschritten die Vergiftung war, was sie als Beweis dafür auffaßten, daß der Körper sich nicht an das Mittel gewöhnt, sondern im Gegenteil seine Widerstandskraft verliert.
Ken Taniguti sahr bei Paraldehyd geringgradigen Eiweißzerfall auftreten. Ebenso Raimann.
Resümieren wir die hauptsächlichsten Wirkungen, die Paraldehyd im Tierexperiment mit toxischen Dosen hervorruft, so sind dies bei der akuten Vergiftung: Herabsetzung der Schmerzempfindung, nach einem anfänglichen Stadium erhöhter Erregbarkeit im Sinne einer Reflexsteigerung, Erlöschen der Reflexe, wobei die Patellarsehnenreflexe am längsten erhalten bleiben, auch dann noch, wenn der Cornealreflex bereits nicht mehr auszulösen ist; Lähmung des darmhemmenden Nervenapparates, Verlangsamung der Atmung und schließlich Exitus durch Lähmung des Atemzentrums. Bei Pflanzenfressern scheint Paraldehyd auch Methämoglobinanämie und Methämoglobinurie zu erzeugen. Bei der Vergiftung im chronischen Verlaufe zeigen sich: zunächst Temperatursteigerungen, dann Sinken der Körperwärme, weiterhin Albuminurie, fettige Degeneration des Herzens und der Leber, allgemeine Abmagerung und schließlich Tod.
Nachdem wir somit die Wirkung der akuten und chronischen Paraldehydvergiftung im Tierexperiment kennen gelernt haben, wollen wir uns zunächst der akuten Paraldehydvergiftung beim Menschen zuwenden, soweit solche Fälle in der Literatur veröffentlich worden sind.
Einen sicheren Fall von wirklicher akuter Paraldehydvergiftung mit tödlichem Ausgang konnte ich nicht finden. Die zwei angeblichen Todesfälle nach Paraldehydanwendung, die sich in der Literatur finden (Brit. med. Journ. 2, 472, 1890 u. der Fall v. Paltauf) haben sich nach den genaueren Nachforschungen Lewins und Bumkes als nicht stichhaltig oder zum mindesten nicht eindeutig herausgestellt. Im ersten Falle trat das tödliche Ereignis bei einem Typhuskranken ein, im Falle Paltaufs war das Paraldehyd mit dem bekanntlich viel giftiger wirkenden Chloralhydrat vergesellschaftet.
Ich will hier auch auf jene Fälle nicht weiter eingehen, in denen auf geringe Dosen Paraldehyd Erscheinungen auftraten, welche von den in Frage kommenden Autoren auf eine außergewöhnliche Paraldehydwirkung zurückgeführt wurden.
So veröffentlichte Würschmidt einen Fall, bei dem einmal nach dem Einnehmen der gewöhnlichen Dosis Taumel, Unsicherheit auf den Beinen und leichte Delirien auftraten. Ich mit mit Bumke der Ansicht, daß es sich hier um eine individuelle Intoleranz gehandelt hat. Auch der von Sommer beschriebene Fall gehört wohl hierher.
Außerdem will Israel bei Darreichung von Paraldehyd 2 mal maniakalische Zustände gesehen haben.
Uns interessieren hier mehr diejenigen akuten Vergiftungen mit Paraldehyd, bei denen meist aus Versehen eine einmalige große Dose, die weit über die nach der Pharamkopöe zulässige Maximaldosis hinausgeht, dem menschlichen Körper einverleibt wurde.
Einen solchen Fall beschreibt Mackenzie im Brit. med. Journal 1891.
Eine Frau hatte aus Versehen 105g Paraldehyd bekommen. Sie verfiel darauf in einen 34 stündigen Schlaf. Der Puls war noch stark beschleunigt (120 p.m.), ebenso die Respiration (40-60 p.m.). Außerdem äußerte sich die Vergiftung in cyanotischer Verfärbung des Gesichtes. Die Pupillarreaktion für Licht war vollkommen aufgehoben. Die Frau wurde völlig wiederhergestellt.
In den 2 Fällen Raimanns hatten die betreffenden Patienten ebenfalls aus Versehen je 50g reines Paraldehyd bekommen. Die Folge war ein 14 - bzw. 19 stündiger Schlaf ohne irgenwelche Schädigungen des Körpers. Die Untersuchungen Raimanns ergaben, daß das Paraldehyd nur in geringen Mengen durczh die Nieren ausgeschieden wurde. Die Proben auf die Produkte der Darmfäulnis fielen negativ aus. Erst nach einigen Tagen trat wieder Indican auf. De größte Menge Paraldehyd wurde durch die Lungen und die Haut wieder ausgeschieden.
Saward veröffentlicht eine akute Paraldehydvergiftung bei einer an Cervixcarcinom leidenden Frau.
Diese hatte aus Versehen eine Unze Paraldehyd erhalten. Die Kranke war bewußtlos. Es machten sich Störungen der Herztätigkeit und Atmung geltend. Die Cornealreflexe verschwanden zeitweilig, die Lichtreaktion der Pupillen aufgehoben. Nach 24 Stunden trat vollkommene Wiederherstellung ein.
Probst beobachtete einen Fall, wo durch Versehen einer Kranken mit Myelitis 50g Paraldehyd verabreicht wurden. "Die Folge davon war ein 20 stündiger Schlaf ohne weitere Folgen". Eine 2, von ihm beobachtete Kranke mit chronischer Melancholie hatte wiederum aus Versehen 60g Paraldehyd bekommen. Dieselbe schlief 22 Stunden. Sie war jedoch aus dem Schlafe zu erwecken, öffnete die Augen, nahm die gebotene Nahrung und schlief dann sofort wieder ein. Nach Ablauf des Schlafstadiums blieben keine weiteren Schäden zurück.
Weiterhin hat Maier eine akute Paraldehydvergiftung publiziert. Der Patient hatte versehentlich 10-12g Paraldehyd erhalten. Es erfolgte tiefer Schlaf bei ruhiger und normaler Atmung und normaler Pulsfrequenz. Ich muß Löwenstein Recht geben, der die Krankheitserscheinungen dieses Falles überhaupt nicht für Erscheinungen einer Paraldehydvergiftung hält.
Die akuten Paraldehydvergiftungen beim Menschen zeichnen sich nach den bisherigen Erfahrungen zusammengefaßt dadurch aus, daß sie in allen Fällen einen außerordentlich tiefen und langen Schlaf hervorrufen. Die Dauer des Schlafes scheint parallel mit der Größe der einverleibten Dosis zu gehen. Weiterhin werden auch beim Menschen, wie bei der experimentellen Vergiftung beim Tier, nach übermäßigen Mengen Störungen der Atamung, der Herztätigkeit und der Reflexe beobachtet.
Gewissermaßen als Überleitung zur chronischen Form der Paraldehydvergiftung möchte ich hier einige Publikationen von Autoren anführen, deren Ansicht dahin geht, daß sich aus dem fortgesetzten Gebrauch an sich zulässiger Dosen unter Umständen Störungen ergaben, oder die bei chronischem an sich zulässigen Gebrauch von Paraldehyd dann Störungen gesehen haben, wenn einmal die maximale Einzelgabe in nicht gerade bedeutender Weise überschritten wurde.
Dies letztere war bei der Kranken Beckers der Fall. Die Patientin, an sich häufige Dosen von 2,0 Paraldehyd gewöhnt, hatte aus Versehen 15g Paraldehyd auf einmal genommen. Daraufhin trat ein 18 stündiger Schlaf ein. Die Cornealreflexe erloschen. Im Urin erschien Albumen, das erst nach einigen Tagen wieder verschwand. Dieser Fall könnte als Bestätigung der Tierexperimente von Raimann, Bokai und Barcsi, sowie Ken Tanigute aufgefaßt werden, ebenso als Beweis für die Anschauung von Bokai und Barcsi, daß bei fortgesetzten Gebrauch des Mittels keine Gewöhnung an dasselbe eintritt, sondern daß im Gegenteil der Körper seine Widerstandskraft einbüßt.
Dehio u.a. sahen bei chronischen Gaben von 2,0 bis 10,0 Paraldehyd pro Tag üble Wirkungen auf den Verdauungstrakt (Durchfälle) und weiterhin Abmagerung. Bumke glaubte diese Erfahrungen auf unreine oder in unzulässiger Form dargereichte Präparate zurückführen zu sollen. Die Erfahru7ngen unserer Anstalt, in der vor dem Jahr 1912 ein ausgiebiger Gebrauch von Paraldehyd gemacht wurde, bestätigen ebenfalls die Erfahrungen Dehios u.a. nicht. Wir haben niemals Erscheinungen von seiten des Magendarmkanals und der allgemeinen Ernährung selbst bei langer Darreichung von Paraldehyd gesehen.
Endlich berichtetet Würschmidt davon, daß er einmal Abstinenzerscheinungen nach Entziehung von Paraldehyd auftreten sah in Form von Delirien und Angstzuständen, die wieder verschwanden, als das Mittel in kleineren Gaben fortgereicht wurde.
Wenn ich mich nun zur chronischen Paraldehydvergiftung beim Menschen, zum eigentlichen Paraldehydismus wende, so hält Heiberg, um zunächst mit bereits in der Literatur niedergelegten Allgemeinschilderungen des Krankheitsbildes zu beginnen, die Erscheinungen der Paraldehydvergiftung denen des chronischen Alkoholismus sehr ähnlich.
Lewin bezeichnet als Symptomatologie des Paraldehydismus: Abmagerung und Anämie, abendliches Fieber, Verstopfung und Flatulenz neben Heißhunger, irreguläre Herzaktion mit Palpitationen, Albuminurie oder ein Delirium tremens, Abnahme des Gedächtnisses und der Intelligenz, Sprachstörungen, andauerndes Benommensein oder Angstgefühle und Aufregung, Muskelschwäche, Tremor der Zunge, des Gesichtes und der Hände, unsicherer Gang, Ruhelosigkeit und Parästhesien.
Es ist das Verdienst Krafft-Ebings, zuerst auf die chronische Form der Paraldehydvergiftung aufmerksam gemacht und solche Fälle zur allgemeinen Kenntnis gebracht zu haben.
Sein erster Fall betraf einen Mann, der wegen neurasthenischer Beschwerden und Schlaflosigkeit 1 Jahr lang täglich 35g Paraldehyd nahm. Als ihn Krafft-Ebing sah, an den er sich wegen Entziehungserscheinungen wandte, waren am Pat. zu konstatieren: Tremor der Hände, Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Frische, blasser, aufgedunsener, anämischer Habitus, stark entwickeltes Fettpolster, herabgesetzter Muskeltonus. Er machte den Eindruck, eines in chronischer Intoxikation befindlichen, dem Alkoholismus nahestehenden Patienten.
Die 2. Beobachtung Krafft-Ebings betraf eine 27 jährige Dame aus angeblich unbelasteter Familie, von Haus aus sehr nervös, reizbar. Im Anschluß an einen psychischen Schock mit hysteroneurasthenischen Symptomen und erheblicher Schlafstörung. Der zugezogene Arzt ordinierte Chloralhydrat, eine Medikation, die schließlich zur Gewöhnung führte (täglich 5,0 Chloral). Pat. wurde muskelschwach, geistig stumpf, anämisch, bekam Tremor. In der Grazer Klinik, wohin sie sich behufs Entziehung wandte, gelang diese mit mancherlei Schwierigkeiten schließlich dadurch, daß Chloral durch Paraldehyd ersetzt wurde. Sie wurde mit der Weisung entlassen, über die zuletzt gebrauchte Dosis von 5,0 Paraldehyd pro die nie hinauszugehen. Nahezu 2 Jahre später kam Pat. wegen chronischen Paraldehydmißbrauch in die Klinik zurück. Sie roch stark nach Paraldehyd, war bleich, gedunsen, hatte starken Tremor der Hände und Zunge, Hitzegefühl im Kopfe, Globus, Beengungs- und Angstgefühl. Puls leicht beschleunigt (90). An der Beugseite beider Kniegelenke hyperästhetisch, Ovarien druckempfindlich. Nach Berichten ihrer Verwandten hatte sie zuletzt pro die 40,0 Paraldehyd genommen, sie selbst gab zu, 30g pro Tag seit Jahresfrist genommen zu haben. Ihre Angehörigen sahen sie fast andauernd in einem duseligen, rauschartigen Zustand. In die Klinik hatte sie 350g reines Paraldehyd mitgebracht. Eine plötzliche Entziehung wurde vermieden und die Dosis zunächst auf 10,0 heruntergesetzt. Dieses Quantum sollte täglich um 1,0 vermindert werden. Trotz dieser langsamen Entziehung trat am 4. Tage ein ausgesprochenes Delir ein mit Halluzinationen, Bewegungsunruhe und starkem Tremor der Hände und Zunge. Sie bekam epileptiforme Anfällle, Temperatursteigerungen bis 38,6 Grad Celsius, Pulsbeschleunigung, Albuminurie. Der Patellarreflex war nicht auszulösen. Während des Deliriums wurde Pat. mit Extract. opii aquos. und Strychnin. nitric. behandelt. Das Delir zeigte, wenn ich so sagen darf, einen lytischen Abfall und dauerte bis zum Schwinden der letzten Reste etwa 10 Tage. Pat. wurde schließlich mit einem Bromrezept entlassen, nachdem auch ihre hysterische Neurose wesentlich gebessert war.
In der 60. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin besprach dann Rehn einen Fall von Paraldehydintoxikation. Ich möchte es, um die Vollständigkeit zu wahren, nicht unterlassen, die Krankengeschichte in den wesentlichsten Zügen hier wiederzugeben, obwohl ich mit Bumke und Probst der Anschauung bin, daß hier die Paraldehydätiologie etwas zweifelhaft ist, zumal einerseits große Alkoholgaben (60g Rum) damit verbunden waren und außerdem die Unterschiede im Symptomenkomplex bei dem schwer neuro- und psychopathischen Manne vor und nach dem Paraldehydmißbrauch nicht allzu erhebliche waren.
36 jähriger Mann, angeblich nicht belastet. In der Jugend nichts Besonderes. 1885 viel Diarrhöen, wurde Opiophage, täglich 3,0 Tincturus opii. Entziehung gelang. 1886 aufreibende Tätigkeit mit großer Verantwortlichkeit. Es stellten sich Schlaflosigkeit, Unruhe, Ängstlichkeit, Angstgefühle, Menschenscheu ein. Dagegen allmählich fast 20g Paraldehyd in 60g Rum pro Dosis. Schon 1 Monat darauf Blutwallungen, Zittern und Zucken in den Gliedern, große Ängstlichkeit, heftiges Brennen im Maagen, Übelkeit, Brechneigung mit Würgen, ab und zu Erbrechen, Reizbarkeit, Unfähigkeit zu arbeiten, geistige Benommenheit, Menschenscheu. Bei Aufnahme zur Entziehung Eindruck eines Alkoholparalytikers: leichte Erschöpfbarkeit, Fehlen jeglicher Energie, schüchtern, verlegen, stockende Sprache, Tremor, enomr gesteigerte Patellarsehnenreflexe, Unsicherheit der Bewegungen bei geschlossenen Augen, Geschmack angeblich gestört, Herabsetzung der normalen Erregbarkeit für faradischen Strom. Haut des Oberkörpers gerötet und gedunsen. Starke Hyperhydrosis. Puls p.m. 150. Leber vergrößert. Das Paraldehyd wird Pat. sofort entzogen, wird mit Brom und Chloral behandelt. Nach etwa 3 Monaten wird Pat. geheilt entlassen. Er erkrankt alsbald nach einer angeblichen, großen, geschäftlichen Anstrengung mit morgendlichen Würgen und Erbrechen, wobei es selbst bis zu Ohnmachten kam.
Auch der von Jastrowitz veröffentlichte Fall ist keine reine Paraldehydvergiftung. Hier wirkten Morphium und Paraldehyd zusammen.
Die Frau eines Arztes hatte neben Morphium 0,4 pro die sehr große Dosen Paraldehyd genommen, zuletzt 30g innerhalb 24 Stunden. Reflexerregbarkeit, Gehörstäuschungen und Gesichtshalluzinationen. Der Urin nroch stark nach Paraldehyd und enthielt neben Eiweiß graunulierte, hyaline Zylinder, welche abnorme Bestandteile nach Heilung der Pat. daraus verschwanden. Auch die Exspirationsluft roch penetrant nach Paraldehyd.
Jastrowitz resümiert: wo Paraldehyd in große Dosen und längere Zeit gebraucht wird, da zeigen sich vasomotorische, insbesondere periphere vasoparalytische Störungen, heftige Kongestionen zum Kopf und zur Haut, ferner ausgesprochene Delirien, die völlig den Charakter des Delirium tremens tragen.
Mattison beobachtete einen Kranken, der infolge großer Dosen Paraldehyd von heftigen nervösen und psychischen Störungen befallen wurde, die nach seiner Ansicht durchaus denen nach Chloralmißbrauch entstanden glichen, nur sei die Ernährung weniger beeinträchtigt gewesen. Die Abstinenzerscheinungen glichen denen der Morphinisten.
Leider ist mir für diesen an sich wichtigen Fall die Originalveröffentlichung nicht zugänglich gewesen.
1897 publizierte Reinhold in den Therapeutischen Monatsheften die Krankheitsgeschichte eines 41 jährigen Mannes, der an einem reinen Delirium tremens paraldehydicum erkrankt war.
41 jähriger Herr, dem infolge seines Berufes Paraldehyd in beliebiger Menge zugänglich war, erblich belastet (Vater nicht normal), nahm wegen gemütlicher Depression mit Schlaflosigkeit Paraldehyd in steigender Dosis, schließlich bis zu 60g innerhalb 24 Stunden. War bei Aufnahme in der Klinik äußerst hinfällig. Die Sprache war insofern gestört, als einzelne Worte nur mit Mühe hervorgestoßen werden konnten, bisweilen trat eine Art Silbenstolpern auf. Die Ernährung war stark reduziert, die Hautfarbe bleich und fahl. Reichliche Schweißbildung an der Stirn. Starrer Blick. Pupillen über mittelweit, reagierten. Starker Tremor, linguae et manuum. Puls beschleunigt, unregelmäßige Herzaktion. Abgeschwächte Patellarreflexe. Brach-Romberg mäßig ausgesprochen. Am 2. Tag des Aufenthaltes in der Klinik trat ein epileptiformer Anfall mit nachfolgender Amnesie auf. In der schlaflosen Nacht Gesichtstäuschungen. Am 4. Tage ausgesprochen deliranter Zustand: unruhig, benommen, verwirrt. Verfolgungsideen. Pat. verkennt Lokalitäten und Personen. Am 6. Tag wieder vollkommen klar und geordnet, blieb es auch. Kein Rezidiv. Wurde mit Bromnatrium 4 mal 0,5 und Trional 1,0 behandelt.
Dann berichtet Behr von einem nervösen, jungen Mädchen, das längere Zeit hindurch pro Tag 1,0 Sulfonal genommen hatte und dann zu Paraldehyd griff.
Schon nach 1 1/2 Monten war sie auf eine Dosis von 15g Paraldehyd täglich gestiegen, die sie dann weitere 4 Monate zu sich nahm. Dieser Mißbrauch rief hochgradige Abmagerung und Blässe hervor. Die Kranke starrte blöde vor sich hin, stieß von Zeit zu Zeit bellende Laute aus. Nachdem ihr das Paraldehyd sofort entzogen ward, reagierte sie mit einem Delirium tremens ähnlichen Zustande. Sie zeigte massenhafte Halluzinationen auf fast sämtlichen Sinnesgebieten. Weiterhin starken Tremor, Agrypnie, Verlangsamung der Sprache und Unfähigkeit zu gehen und zu stehen. Die Orientierung war nicht völlig aufgehoben. Die Kranke beherrschten unbestimmte Angst- und Krankheitsgefühle. Nach 3 Tagen traten die Erscheinungen zurück, nach 6 Wochen wurde Pat. geheilt entlassen.
Probst hatte Gelegenheit außer seinen 2 bereits erwähnten Fällen akuter Paraldehydvergiftung auch ein Delir nach chronischen Paraldehydgebrauch zu beobachten.
Die betreffende 38 jährige, angeblich nicht belastete Dame war seit mehreren Jahren dem Paraldehydmißbrauch ergeben. Sie hatte früher längere Zeit Opium genommen, danach Kognak. In einer Privatanstalt hatte sie Paraldehyd kennen gelernt, das sie zuletzt ausschließlich nahm, täglich 10g, und zwar nicht nur als Schlafmittel, sondern auch als Beruhigungs- und Betäubungsmittel untertags. Sie kam im benommenen Zustand in die Anstalt, nachdem sie vorher innerhalb 36 Stunden mindestens 150g Paraldehyd genommen hatte.
Sie war bei Aufnahem livid verfärbt, blaß, ganz matt, erbrach nach Paraldehyd riechende Massen. Auch der Stuhl roch stark nach Paraldehyd, ebenso sie Exspirationsluft. Die Temperatur erwie sich nur einige Zehntelgrad erniedrigt. Atmung und Puls nicht beschleunigt. Blutdruck etwas vermindert. Die Kniesehnenreflexe schwer auszulösen. Am 2. und 3. Tage starkes Schwitzen und Schlaflosigkeit. Dann unruhig, verworren, halluzinierte Gehör und Gesicht, zog Spinnfäden. Am 5. Tage Muskelzuckungen in allen Extremitäten und in der Zunge. Unsicherer, schleppender Gang. Halluzinationen usw. bestanden fort. Bei bedeckten Augen sah sie Kreise, Pferde, Wagen, helle und dunkle Menschen, vermeinte Sägespäne zu riechen. Subjektiv bestand Hitzegefühl, Schwindel und Trockenheit im Munde. Sie kam trotz Benommenheit und Mattigkeit Aufforderungen nach. Jetzt war auch der Puls beschleunigt, die Hautreflexe lebhaft, dagegen waren die Patellarreflexe wieder prompt auszulösen. Im Harn konnten größere Mengen Aceton nachgewiesen werden. Am 6. Tag nach einem längeren Schlafe Abklingen des deliranten Zustandes. Danach war eine partielle Erinnerung an die Vorgänge vor Einsetzen des Delirs und für die Zeit desselben vorhanden. Die Temperatur war stets normal geblieben. Pat. wurde geheilt entlassen, ein Rezidiv trat nicht mehr auf. Das Delir war aufgetreten, trotzdem der Kranken das Paraldehyd nur allmählich entzogen worden war.
Bezüglich weiterer Einzelheiten (genau Urinuntersuchungen usw.) muß ich, um nicht allzu breit zu werden, auf die eingehende Schilderung des Originals verweisen.
Nach der Arbeit Probsts finde ich in der Literatur eine längere Pause bis Hartz wieder einen Beitrag zur Frage des chronischen Paraldehydismus lieferte.
Es handelte sich um einen 47 jährigen Mann, der längere Zeit Paraldehyd zu sich nahm, schließlich Dosen von 60g. Dies bewirkte bei Pat. einen Zustand von Euphorie, wie wir ihn bei Morphinisten finden. Dann traten feinschlägiger Tremor der Finger, Lippen und Zunge auf. Des Mannes bemächtigte sich eine hochgradige Ruhelosigkeit, er alterte vorzeitig, wurde völlig schlaflos. Diese Schlaflosigkeit konnten auch Hypnotica wie Chloral, Brom, Hyoscin nicht überwinden.
Leider stand mir zu näheren Aufschlüssen die Originalarbeit nicht zur Verfügung.
Kehrer berichtet die Geschichte eines Falles von Paraldehydepilepsie. Ganz eindeutig ist jedoch dieser Fall nicht, zumal vor dem Paraldehydmißbrauch der Körper des betreffenden Patienten reichlich mit anderen Giften: Chlorform, Äther, Chloral, Morphium, Veronal mißhandelt wurde und außerdem neben Paraldehyd in allerdings geradezu ungeheuren, einen Rekord darstellenden Dosen noch reichlich Alkohol genommen wurde.
Ein 39 jähriger Arzt, ohne nachweisbare Heredität, kam nach einem stark affektbetonten Erlebnis in einen Zustand dauernder innerer Erregung und Schlaflosigkeit. Gebrauchte dagegen zunächst Chloroform, wovon er allabendlich 40g inhalierte. Dieses wurde, da es bald traumartige Exaltation hervorrief, durch Äther in ähnlichen Mengen ersetzt. Dann griff er zum Morphium (20-30 gtt. einer 1 proz. Lösung). Nach kurzer Zeit stellte sich Gefühl der Schwäche, Appetitlosigkeit, mürrisch-depressive Stimmung ein. Deshalb versuchte er Morphium-Chloral (0,01+1,5). Dazwischen Veronal 1,0 - 2,0 und später Tt. opii 30 gtt. Wegen Müdigkeit und Tremor wieder Chloralhydrat und dazu Trional und Sulfonal. Nach etwa 2 Jahren ab Beginn dieser Medikamentation neuerliche seelische Erregungen, dazu anstrengende Landpraxis. Pat. ging jetzt zu 80g Kognak, 1 1/2 bis 2l Bier, 1 Schoppen Wein und 3,0-5,0 Paraldehyd über. Mit letzterem stieg er innerhalb 4 Wochen auf 15,0 pro die. Die Folge war alsbald Vergeßlichkeit, Abnahme der geistigen Spannkraft, allgemeine Ataxie, Abnahme der Hörschärfe, Einschlafen mitten am Tag. Die Paraldehyddosis war auf täglich 30-40g gestiegen, dann auf 80g und schließlich sogar auf 200g. Dazu nahm er 40g Kognak und 1/4l Wein; als Gegenmittel gegen das Paraldehyd Erlenmeyers Bromgemisch. Schließlich kam er in die Freiburger Klinik. Er zeigte hochgradige Ratlosigkeit, unsichere, verlangsamte Auffassung, mangelhafte, zeitliche Orientierung; lebhaften, feinschlägigen Tremor, starke Ataxie aller Bewegungen, namentlich der sprachlichen. Die Pupillen reagierten wenig ergiebig auf Licht und Konvergenz. Am 2. Tage in Erregung und gekünstelter heiterer Verstimmung. Am 3. Tage plötzlich ein typisch epileptischer Anfall mit folgender Amnesie für denselben. Nach dem Anfall trat allmähliche Beruhigung ein. Die Rekonvalezenz zog sich sehr lange hin: es fehlte die Einsicht. Pat. war reizbar und exaltiert. Nach 2 1/2 Monaten frei von Beschwerden und von jeglichem Bedürfnis nach Alkohol, Paraldehyd u.a. geheilt entlassen.
Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß es im Falle Kehrer außerordentlich schwierig ist, die Rolle, die das Paraldehyd in diesem Kunterbunt von verschiedensten Giften gespielt hat, zu präzisieren. Zum mindesten ist hier eine Kombinationswirkung von Paraldehyd und Alkohol nicht ausgeschlossen. Eine Differenzierung einzelner Symptome einesteils für Rechnung des Paraldehyds, andernteils des Alkohols halte ich um so mehr für untunlich, als beide Gifte, worauf schon von verschiedensten Autoren hingewiesen wurde, zweifellos in ihrer chronischen Vergiftungsform sehr ähnliche Bilder erzeugen. Ich glaube, daß auch die im Verhältnis zu den bisher beschriebenen Fällen so stark verzögerte Rekonvaleszenz auf Rechnung der konsumierten verschiedenartigen Gifte und wohl auch auf das Konte der geradezu ungeheuerlichen, verhältnismäßig lange Zeit gebrauchten Dosen zu setzen ist.
Endlich möchte ich die, soweit ich sehen kann, neueste Veröffentlichung, die von Fornaca und Quarelli, erwähnen.
Auch in diesem Fall handelte es sich um einen Arzt, 48 Jahre alt. Die Mutter litt nach Geburt des Pat. an epileptischen Anfällen. Pat. war von jeher starker Raucher und Weintrinker. Im Alter von 32 Jahren durch Jagdunfall Schädelverletzung. Seit der Zeit hartnäckige Schlaflosigkeit. Dagegen wandte er zunächst Chloral 6,0 pro die an, dann Sulfonal, Trinonal, Veronal. Von letzterem 5 Jahre hindurch täglich durchschnittlich 5g. In den letzten 5 Jahren Paraldehyd: erst 2,0 pro die, dann allmählich 12,0 und 15,0. 2 Monate vor Aufnahme traten psychische Störungen auf: starke Veränderlichkeit des Charakters, depressive und Erregungszustände, andauernde Geistesverwirrung. Daneben Tremor der Hände und Sprachstörungen. In der letzten Woche nahm Pat. 500g Paraldehyd. Suicidversuch, fiel jedoch vorher unter heftigen, auf den ganzen Körper ausgedehnten Konvulsionen zu Boden. -
Kam in halbbewußtlosen, psychomotorisch erregten Zustande in die Klinik. Im Urin Spuren von Urobilin. Starker Paraldehydgeruch des Atems. Erregt, wollte Suicid begehren. Schon am nächsten Morgen Einsetzen eines Delirs: Halluzinationen, sieht Schatten, glaubt gestochen zu werden usw. Am 3. Tage schwerer Konvulsionsanfall. Dann abwechselnd Delirien mit hochgradiger motorischer Unruhe und klare, ruhige Stunden. Dieses stundenweise Eintreten klarer und ruhiger Stunden führen Fornaca und Quarelli auf die eingeleitete Pantoponbehandlung zurück. Am 7. Tage erneutes Einsetzen des Deliriums mit Halluzinationen, motorischer Erregtheit, reichliche Diaphorese. Während des deliranten Zustandes Temperaturen stark erhöht (40 Grad Celsius), Puls klein und schnell, starke Schweißbildung. Nach 9 Tagen Befinden des Pat. wieder normal.
Die Verfasser wollen in dem Inhalte der Gesichtshalluzinationen geringe Unterschiede zwischen Delirium paradelhydicum und Delirium tremens alcoholicum wahrgenommen haben. Den beobachteten epileptischen Anfall stellen sie in engen Zusammenhang mit dem akuten Erregungszustand des Kranken, der infolge der vorhergegangenen Gehirnverletzung und wahrscheinlich auch der mütterlichen Vererbung einen guten Boden abgegeben für eine vermehrte corticale Reizung.
Ich lasse nun im folgenden die Krankheitsgeschichte einer chronischen Paraldehydvergiftung folgen, die ich in der hiesigen Heil- und Pflegeanstalt zu beobachten Gelegenheit hatte. Ich werde die Krankengeschichte zur leichteren Orientierung etwas ausführlicher wiedergeben.
Es handelt sich um einen 45 jährigen Mann, von Beruf Volksschullehrer. Die Eltern sind beide in hohem Alter an Influenza gestorben. Hereditäre Momente werden verneint. Der Vater soll jedoch im Zorne gerne Schnaps getrunken haben.
Pat. war von Haus aus eine heitere, vergnügte Natur. Im Jahre 1897 luetische Infektion. Danach 4 Schmierkuren. 1902 verheiratete sich Pat.; hat 2 gesunde Kinder. In seiner Junggesellenzeit soll er sehr unregelmäßig gelebt und viel getrunken haben. Seit seiner Verheiratung lebt er mäßig.
Ab 1898 klagte Pat. über Magenbeschwerden, er mußte öfters 1/4-1 Stunde nach Nahrungsaufnahme erbrechen. Dabei bestand Übelkeit, Aufstoßen, Appetitlosigkeit. 1902 stand er wegen dieses Magenleidens längere Zeit in Behandlung von Prof. Fleischer. Dieser stellt die Diagnose: Nervöse Dyspepsie.
Im Januar 1903 traten nach geringfügigem Streit Angstgefühle in der Magengegend auf. Pat. fürchtete melancholisch, irrsinnig zu werden. Er wurde anfallsweise von allen möglichen ängstlichen-hypochondrischen Vorstellungen beherrscht. Dieser Zustand dauerte 6 Wochen, dann wurde Pat. wieder freier, blieb jedoch nervös und reizbar. Im Jahre 1907 stellte sich wieder häufigeres Erbrechen ein. Nach Lektüre eines Romans traten neuerdings allerlei ängstliche Vorstellungen auf. Er kam in der Ernährung sehr herunter (von 190 auf 126 Pfd.). Auf den Rat seines Hausarztes hin ließ er sich schließlich in das Sanatorium Herzoghöhe - Bayreuth aufnehmen. Dort wechselten nach der Krankheitsgeschichte freiere Zeiten ab mit Zeiten, in denen Pat. verstimmt und von ängstlich-hypochondrischen Vorstellungen erfüllt war. Diese Zeiten der Verstimmung usw. waren stets auch mit Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit, Erbrechen usw. verknüpft.
Nach 1 monatlichen Aufenthalte wurde er in fast etwas hypomanischer Verfassung entlassen. 1 Jahr danach ging er wieder freiwillig wegen der alten Beschwerden, die auch in der Zwischenzeit periodisch immer wieder aufgetreten waren, nach Herzoghöhe. Körperlich waren dort konstatiert worden: lebhafte Patellarsehnenreflexe, kleinschlägiger Tremor der Hände. Die Pupillen waren in Ordnung, ebenso die Sensibilität.
In der Anstalt Herzoghöhe lernte Pat. das Paraldehyd kennen, nachdem er früher wegen seiner nervösen Beschwerden und der damit verbundenen Schlaflosigkeit bereits von seinem Hausarzt andere Schlafmittel meist Brom, Veronal, Veronal-Natrium erhalten hatte, zu denen er gelegentlich auch ohne ärztliche Verordnung griff, doch niemals in Dosen, die das zulässige Maß überschritten.
Nach seinem Bayreuther Aufenthalte hielt er sich ausschließlich an das Paraldehyd. Bei jeder Aufregung, jedem Ärger in der Schule nahem er es: erst 2, 3, 5g im Tage, dann weiterhin in steigender Menge. Im letzten Jahre, 1912, nahm er auch untertags öfter Paraldehyd. "weil er es vor Angst nicht mehr aushalten konnte und damit er seine elende Existenz vergesse". Zuletzt, etwa seit Dezember 1912 nahm er durchschnittlich morgens 5g, untertags 2 mal 10g, abends 8g und nachts 10g, so daß er zum mindesten auf 33g Paraldehyd innerhalb 24 Stunden kam.
Pat. wurde nach Bericht seines Hausarztes völlig appetitlos, der Ernährungszustand ging immer weiter zurück, seine Aufgeregtheit wuchs, seine Angstgefühle wurden immer stärker, der Schlaf war trotz des Paraldehyds wenig. In den letzten Tagen vor Aufnahme in die Anstalt war Pat. überhaupt ständig in einem Zustande von Betäubung, Angst und Verstimmung. Es trat starke Suicidneigung hervor.
Am 5. Januar 1913 wurde Pat. in die Anstalt aufgenommen.
Er verbreitete ausgesprochensten Paraldehydgeruch. Sah außerordentlich blaß und schlecht ernährt aus. Machte einen müden, leicht benommenen Eindruck. Gab jedoch auf Fragen prompte und sinngemäße Auskunft. Er erwie sich örtlich, zeitlich und persönlich vollkommen orientiert. Gedächtnis und Merkfähigkeit waren intakt. Er gab selbst seinen Paraldehydmißbrauch zu. Klagte über heftiges Angstgefühl und starke innere Unruhe, "er könne es nicht mehr aushalten". Wollte partout eine Morphiumeinspritzung haben. Der Puls wies starke Beschleunigung auf (130-140 Schläge p.m.) Pupillen gleichweit, reagierten prompt auf Lichteinfall und Konvergenz. Die Sprache war bei schwierigeren Wörtern stolpernd. Pat. selbst empfand dies peinlich. Die Zunge zitterte beim Hervorstrecken. Die Patellarsehnenreflexe waren prompt auszulösen, nicht dagegen die Bauchdeckenreflexe. Bei Zielbewegungen der Hände leichtes Ausfahren. Kniehackenversuch ging, nur machte es Pat. sichtlich Mühe, die Beine aufzuheben. Feinschlägiger Tremor der gespreizten Finger. Alle Bewegungen etwas verlangsamt. Gang leicht unsicher. Im Urin: positive Nylandreaktion.
Am 6. Januar 1913. Hat nacht nach einem 3 stündigen Bade wenig und unruhig geschlafen. Zittert am ganzen Körper vor innerer Erregung und Spannung. Äußerst heftige Angst. Drängt einsichtslos nach Entlassung und Schlafpulver. Spricht hastig und überstürzend. Kommt vor Erregung kaum zum Essen. Droht mit Suicid. Erhält Dauerbad und Digalen. Puls 110 p.m., wenig kräftig.
7. Januar 1913. Hat 6 Stunden geschlafen. Zittert noch immer am ganzen Körper. Atmung beschleunigt. Hat heftige, unbestimmte Angst. Wird gegen Abend motorisch sehr unruhig, fängt an verwirrtes, zusammenhangloses Zeug zu reden.
Ref. findet ihn mit starker Cyanose des Gesichts. Die Stirne ist mit Schweiß bedeckt. Pat. spricht lebhaft gestikulierend vor sich hin. Dem Inhalte seiner Reden ist zu entnehmen, daß er Stimmen hört, auf die er antwortet. Er hört seinen Arzt, der fortwährend Rezepte diktiert. Hört immer die Worte Paraldehyd und Phenacetin. Er glaubt sich in seiner Wohnung. Hört über sich seine Kollegen versammelt und sprechen. Ist wütend, daß sich einer bereits um seine Stelle bewirbt. In der Zeitung stehen Artikel über ihn. - Wird er energisch angepackt, so erkennt er den Arzt; weiß wo er ist, gibt Tageszeit und Datum richtig an. Nur an der Idee, im Nebensaal einen fremden Arzt zu hören, hält er absolut fest. Sich selbst überlassen, versinkt er sofort wieder in seinen deliranten Zustand. Puls noch stark beschleunigt, Welle klein. Erhält wieder Dauerbad.
8. Januar 1913. Hat bis 3 Uhr morgens geschlafen, dann zunehmende Unruhe, wieder Dauerbad. Pupillen auffallend weit, reagierten jedoch prompt auf Lichteinfall. Wirft sich in der Badewanne auf das rücksichtslosestes herum, so daß er bald überall am Körper blutunterlaufene Stellen hat. Schwätzt fortwährend: ruft seine Frau und Kinder, die er um sicht sieht, verlangt von ihnen Paraldehyd und Bier. Gibt seinen Kindern allerlei Aufträge. Weint dazwischen. Sieht Leute mit schwarzen Bärten. Hält Schule. Äußert Ideen, die auf Halluzinationen des Geruchs und Geschmackes schließen lassen. Dazwischen produziert er Vorstellungen, die andeuten, daß trotz der Verwirrtheit, die Auffassung tatsächlicher Vorgänge nicht gänzlich ausgeschaltet ist, wenn sie auch nur eine sehr mangelhafte und bruchstückweise zu sein scheint. - Bei Druck auf die Bulbi sieht Pat. schwarze Striche und Punkte. Stadtteile von Erlangen. Puls noch beschleunigt, kräftig, regelmäßig. Im Urin 0,3% Zucker, sonst keine pathologischen Bestandteile.
10. Januar 1913. Die letzten beiden Nächte schlaflos, motorisch und akustisch außerordentlich unruhig. Ständig im Dauerbad. Gänzlich verwirrt. Läßt sich jetzt im Gegensatz zu den ersten Tagen aus seinen Delirien nicht mehr herausreißen. Verkennt alles in seiner Umgebung.
11. Januar 1913. Wieder außerordentlich unruhige Nacht bis gegen Morgen. Wird dann etwas ruhiger. Kann im Bette gehalten werden, schläft jedoch nicht. Noch gänzlich verwirrt und benommen. Zieht Fäden aus der Luft herunter und dann auseinander, wie wenn er ein Gewebe auflösen wollte. Puls 84, etwas klein. Gegen Abend wieder erregter.
12. Januar 1913. Von 9-1 Uhr fest geschlafen. Dann wieder außerordentlich unruhig, verwirrt. Flüstert allerlei unverständliches Zeug vor sich hin. Sieht verfallen und blaß aus.
13. Januar 1913. Wenig geschlafen. Einigermaßen ruhiger. Zeitweise etwas klarer, erkennt seine Umgebung. Spricht einigermaßen vernünftig mit dem ihn besuchenden Hausarzt, aber immer wieder schieben sich verwirrte Gedanken dazwischen. Hält Schule, führt mit Kollegen Gespräche. Ein Besuch seiner Frau regt ihn sichtlich auf.
14. Januar 1913. In der Nacht wieder recht erregt. Dauerbad. Dort nach einiger Zeit kollapsartiger Zustand. Zu Bett gebracht schläft er 4 Stunden. Ist am Morgen ganz klar. Erinnert sich an den Besuch seiner Frau. Ist jedoch ängstlich und verstimmt. Fühlt sich unsicher. Dieser klare Zustand hält nur einige Stunden an. Dann wird Pat. wieder verwirrt.
15. Januar 1913. 8 stündiger Schlaf. Puls 84, kräftig. Klar und besonnen.
16. Januar 1913. Ruhig und klar geblieben. Hat bruchstückweise Erinnerungen an die Ideen des Delirs. Die Erinnerung an die ersten Tag des Anstaltsaufenthaltes ist leidlich erhalten. Kann Wirklichkeit und Wahngebilde noch nicht recht auseinanderhalten. Ist namentlich im Zweifel darüber, ob wirklich nicht über ihn in den Zeitungen gestanden. Sieht aber schließlich ein, daß er ja in den letzten 8 Tagen überhaupt keine Zeitung in die Hand bekommen. Stimmung leicht ängstlich. Noch recht zappelig. Im Urin 1,5% Zucker.
Pat. bleibt im weiteren Verlaufe des Anstalsaufenthaltes völlig klar und geordnet. Hatte Einsicht in das Krankhafte seines Zustandes. Hatte zunächst starkes Ruhebedürfnis. Der Zuckergehalt des Urins ging allmählich ganz zurück. Nahrungsaufnahme und Schlaf waren gut. Dazwischen traten für 1 Tag oder auch nur für Stunden die alten, seit Jahren bestehenden Beschwerden auf: er klagte dann über Angstgefühle in der Magengegend, Druck nach dem Genuß von Speisen, Brechreiz. An solchen Tagen war Pat. auch verstimmter, mürrischer, empfindlicher, während er in den freien Zeiten sich heiter und unternehmungslustig zeigte. Die Temperaturen waren stets normal.
Am 17. März 1913 wurde Pat. auf eigenen Wunsch vom chronischen Paraldehydmißbrauch geheilt entlassen. Bis heute kein Rezidiv, Gewicht bei Entlassung 120 Pfd.
Wie wir sehen, handelt es sich bei unserem Patienten um einen von Haus aus psychopathisch veranlagten Mann. Er machte eine luetische Infektion mit nachfolgender entsprechender Behandlung durch. Irgenwelche luetisch zu deutenden Erscheinungen sind später nicht mehr aufgetreten. Vor seiner Verheiratung hat Patient "gerne getrunken". Um sein 35. Lebensjahr herum trat ein Magenleiden auf, das als nervöse Dyspepsie erkannt wurde, und das Patienten im Ernährungszustande zeitweise sehr herunter brachte. Weiterhin erkrankte er mehrmals an Gemütsdepressionen mit stark hervortretender Angst. Mit diesen Depressionen, die zweimal Sanatoriumsaufenthalt bedingten, ist stets auch ein stärkeres Hervortreten des nervös dyspeptischen Erscheinungen verbunden. Auch in freien Zeiten wird Patient als reizbar und nervös geschildert. Allmählich entwickelt sich bei ihm in dem Bestreben, seinen nervösen Beschwerden zu entgehen, ein chronischer Paraldehydismus, der sich über 4 Jahre erstreckt. Schließlich verbraucht er pro die mindestens 33g Paraldehyd. Er gerät damit in einen Zustand der Betäubung, der wohl zweifellos als unmittelbarste Paraldehydwirkung anzusehen ist. Ich glaube indessen auch, daß wir der Giftwirkung des Paraldehyd ein gut Teil der Verschlechterung des psychischen Allgemeinbefindens zuschieben dürfen: die starke Steigerung der ängstlichen Depression, die erhebliche Erregbarkeit und Reizbarkeit. Nie vorher, selbst in den Zeiten, wo Patient ihretwegen das Sanatorium Herzoghöhe aufgesucht hatte, waren sie in solcher Stärke hervorgetreten. Sie gingen nach Entziehung des Paraldehyd auch wieder zurück, wenn sie sich auch nicht gänzlich verloren, was ja an sich erklärlich ist. Diejenigen Beschwerden, denen eben seine allgemein psychopathische Veranlagung zugrunde liegt, bleiben bestehen. Auch die zuletzt bestehende totale Appetitlosigkeit und der damit verbundene weitere Rückgang des Ernährungszustandes (Patient wog bei Aufnahem 115 Pfund, während er zu den schlimmsten Zeiten der dyspeptischen Beschwerden immer noch 126 Pfund gewogen hatte) ist wohl zum großen Teil wenigstens auf Rechnung des Paraldehyd zu setzen. Dies glaube ich mit um so größerer Berechtigung annehmen zu dürfen, als Abmagerung zu den Erscheinungen gehört, die im Tierexperiment regelmäßig bei chronischer Paraldehydvergiftung nachgewiesen wurden (Bokai und Barcsi). Außerdem erwähnt Lewin diese Erscheinung in seiner Symptomatologie des Paraldehydismus. Auch Probst, Reinhold u.a. berichten diese Abmagerung bei ihren Kranken.
Wegen starker Suicidneigung in die Anstalt verbracht, wird Patient das Paraldehyd plötzlich entzogen. Es wurde eine Behandlung mit Dauerbädern eingeleitet und von vornherein wegen des frequenten Pulses Digalen gegeben. Außer starker innerer Spannung, heftiger Angst und Verstimmung finden wir bei dem Kranken blasses, livides Aussehen, stolpernde Sprache, leichte Ataxie, Tremor der Hände und Zunge, Zucker im Urin. In den ersten Tagen gerät er in eine allmählich sich steigernde Unruhe. Er zittert am ganzen Körper.
Am Abend des 3. Tages entwickelt sich ein ausgesprochenes Delir. Patient ist gänzlich verworren, halluziniert auf fast allen Sinnesgebieten, zieht Spinnfäden, ist motorisch und akustisch außerordentlich unruhig, hält Schule, konferiert mit seinen Kollegen usw. Der Puls ist frequent. Starker Schweißausbruch ist vorhanden. Bei Druck auf die Bulbi sieht er schwarze Striche usw. In den ersten Tagen des Delirs ist es möglich, bei energischem Zufassen die Aufmerksamkeit des Kranken wenigstens für kurze Zeit zu fesseln: Er gibt auf Anreden geordnete Auskunft. Später ist das nicht mehr möglich. Der Schlaf ist in sehr erheblicher Weise gestört, weniger die Nahrungsaufnahme. Am 7. Tage des Delirs treten lucide Intervalle auf bis zur Dauer von Stunden. Am 9. Tage endlich ist Patient ganz klar und geordnet. Man könnte in diesem Falle versucht sein, analog dem lytischen Abfall eines Fiebers von einem lytischen Abfall des Delirs zu sprechen. Ein ähnliches stufenweises Schwinden des Delirs finden wir in Krafft-Ebings 2. Falle, ebenso in dem Falle von Fornaca und Quarelli. Die Pulsfrequenz nahm im Laufe des Delirs allmählich mehr und mehr ab. Am 8. Tage des Delirs, kurz vor dessen Lösung, trat ein kollapsartiger Zustand auf. Die enorme motorische Unruhe, vielleicht auch die konsequente Dauerbadbehandlung mögen zur Entwicklung dieser vorübergehenden Herzschwäche beigetragen haben. Ganz wird auch der Einfluß des Paraldehyds an sich nicht auszuschließen sein, von dem wir ja bereits verschiedentlich gehört haben, daß es die Herzaktion herabsetzt. Die Zuckerausscheidung im Harn erfuhr ihre Höhe (1,5%) am 20. Januar, also am 16. Tage des Anstaltsaufenthaltes, nachdem das Delir bereits abgeklungen war. Sie hatte am Anfang 0,3% betragen. Dann sank sie außerordentlich rasch und verschwand ganz.
Betrachten wird das Delir, so glaube ich, daß ohne weiteres seine außerordentliche Ähnlichtkeit mit dem alkoholischen Delirien einleuchtet, nur seine verhältnismäßig lange Dauer ist auffallend. Wir finden diesselben zahlreichen "erlebnisartigen Halluzinationen verschiedener Sinnesgebiete" (Kraepelin), die traumartige Trübung des Bewußtseins, die eigenartige Aufmerksamkeitsstörung, auf die ich bereits besonders hingewiesen habe. Wir finden die Orientierung aufs schwerste gestört. Bei Druck auf die Bulbi treten Gesichtstäuschungen auf. Der Kranke zieht Fäden. Zeitweilig zeigt das Delir direkt den Typus des Beschäftigungsdelirs. Auch der Tremor der Hände und Zunge, die stolpernde Sprache erinnern an das Delirium alcoholicum. Diese Ähnlichkeit des Paraldehyddelirs mit dem durch Alkoholmißbrauch verursachten haben auch schon Krafft-Ebing, Reinhold, Probst, Jastrowitz, Kehrer, Fornaca und Quarelli hervorgehoben. Das Paraldehyd steht ja auch dem Alkohol chemisch außerordentlich nahe.
Die von mir veröffentlichte Krankengeschichte ist ferner ein weiterer Beleg für die Auffassung Kehrers, daß beim chronischen Paraldehydismus psychische Störungen meist als Abstinenzerscheinungen im zeitlichen Sinne auftreten. Das Delir tritt bei meinem Patienten am 3. Tage nach der völligen Entziehung des Paraldehyds auf.
Damit entsteht die Frage, ob es gerechtfertigt erscheint, die Paraldehydentziehung so brüsk mit gänzlicher Entziehung einzuleiten. Dazu ist zu sagen: Wenn wir die bisher veröffentlichten Fälle nachsehen, so kann auch durch eine allmähliche Entziehung des Paraldehyds der Ausbruch eines Delirs oder vielleicht allgemeiner gesagt: einer Abstinenzpsychose nicht vermieden werden, wie die Fälle von Krafft-Ebing, Probst usw. beweisen. Reinhold glaubte allerdings, daß dies erreicht werden könnte, wenn an die Stelle des Paraldehyds zunächst große Alkoholmengen gesetzt würden. Ist das aber nicht Teufel mit Belzebub ausgetrieben? Wenn die Theorie richtig ist, daß durch eine chronische Zufuhr von Giften der Organismus gewissermaßen in einen neuen Gleichgewichtszustand des Stoffwechsel gesetzt wird, der Körper infolge der chronischen Intoxikation eine Umgestaltung des Stoffwechsels eingeht (Cramer-Weber), so muß in jedem Falle eine Störung dieses Gleichgewichtszustandes eintreten, gleichgültig, ob dieser Gleichgewichtszustand brüsk oder mit der Dosis in wenigen Tagen abfallend geändert wird. Es wäre im letzteren Falle nur möglich, daß die Erscheinungen eventuell weniger stürmisch auftreten, was ja fast der Fall zu sein scheint. Diese Fragen scheinen noch einer weiteren Klärung zu bedürfen. Praktisch kommen sie bei der chronischen Paraldehydvergiftung wohl wenig in Frage, nachdem die bisherigen Erkrankungen beweisen, daß sie selbst in schwersten Fällen ohne Hinterlassung irgendwelchen Schadens ausheilen.
Was die übrigen Symptome anlangt, die ich in meinem Falle beobachten konnte, so finden wir auch hier die von anderen regelmäßig angegebene Beschleunigung des Pulses. Die Pulsfrequenz war in den ersten Tagen am größten, während des Delirs nahm sie allmählich ab. Inwieweit dies auf Rechnong des vom 1. Tage gegebenen Digalens zu setzen ist, mag dahingestellt bleiben.
Die Reflexe wiesen im Gegensatz zu anderen Beobachtungen keine wesentlichen Störungen auf, nur die Bauchdeckenreflexe fehlten. Die Patellarsehnenreflexe waren zwar etwas lebhaft, doch will das meiner Ansicht nach nichts Besonderes bedeuten, nachdem bereits in der Krankengeschichte des Sanatoriums Herzoghöhe die Steigerung der Patellarsehnenreflexe erwähnt ist, also zu einer Zeit, wo noch lange kein Paraldehydmißbrauch bestanden hat. Von einer Abstumpfung der Patellarsehnenreflexe, wie sie Probst, Reinhold u.a. gesehen, wurde nichts beobachtet. Auch keine Störung der Pupillarreaktion, weder für Licht noch Akkomodation, war vorhanden, die Pupillen waren während des Delirs nur auffallend weit.
Die gefäßlähmende Wirkung des Paraldehyds, die von fast allen Autoren erwähnt wird, war in der starken Cyanose des Gesichts deutlich zu sehen.
Im Urin war von Anfang an Zucker vorhanden, dessen Ausscheidung sich zunächst steigerte, nach Abklingen des Delirs seine Höhe erreichte, um dann rasch zu verschwinden. Ob diese Zuckerausscheidung überhaupt in ursächlichem Zusammenhang mit der Paraldehydintoxikation steht, möchte ich nicht behaupten. Auffallend ist aber jedenfalls, daß sie mit der Rekonvaleszenz verschwand. Soweit ich sehen kann, ist sie bisher nicht beobachtet worden, nur Probst konnte bei seiner Kranken Aceton feststellen. Die übrigen Autoren berichten meist von Albumen im Urin.
Ein Wort zur Therapie: Krafft-Ebing behandelte seine Patienten mit Extract.opii aquos. und Strychnin. nitric.; Rehm mit Brom und Chloral; Reinhold mit Bromnatrium und Trional, dazwischen mit lauwarmen Bädern. Hartz suchte das Delir mit Chloral, Brom und Hyoscin zu bekämpfen. Bei dem Kranken Kehrers wurde Medinal und Natrium bromatum versucht. Fornaca und Quarelli wandten Pantopon mit angeblich gutem Erfolge an. Ich glaube nicht, daß all diesen Mitteln mehr als symptomatischer Wert zugebilligt werden darf. Wir haben von vornherein auf irgendwelche Medikamente verzichtet und die hochgradige motorische Unruhe und Schlaflosigkeit mit Dauerbädern zu bekämpfen gesucht. Gegen die bei jedem Delir drohende Herzschwäche haben wir vom ersten Augenblicke an Digalen förmlich prophylaktisch gegeben. Ich halte überhaupt Herzreizmittel bei jedem Delir für die in erster Linie ins Auge zu fassende therapeutische Maßnahme.
Noch eines mag Erwähnung finden: Wenn wir die Krankengeschichte der bisher publizierten chronischen Paraldehydvergiftungen durchsehen, so sind es durch die Bank ausgesprochen psychopathisch veranlagte Individuen, die zu Mißbrauch des Paraldehyds gekommen sind. Eine eigentliche erbliche Belastung wird nur in den Fällen Reinholds und Fornacas und Quarellis angegeben. In allen übrigen sind, soweit darauf Rücksicht genommen wurde, hereditäre Momente verneint. Auch von meinem Kranken wird eine hereditäre Belastung geleugnet, man müßte höchstens als einziges Moment in dieser Richtung des Umstand anführen, daß der Vater des Patienten im Zorne gerne Schnaps getrunken hat.
Wenn wir nun zum Schlusse noch einmal die bisher veröffentlichten und mir zugänglich gewordenen Erkrankungen an chronischen Paraldehydismus passieren lassen - es kann sich hier natürlich nur um reine Fälle handeln - so glaube ich bisher 3 Verlaufstypen der psychischen Störungen herausschälen zu können, soweit dies bei der geringen Zahl der bisher beobachteten Fälle überhaupt möglich ist:
Gordon, Ref. in Virchow-Hirschs Jahrbücher 1889 und 1893.