Brasilien: Eine kritische Bestandsaufnahme

Dies ist eine Arbeit, die ich im Rahmen meines Studiums für die Absolvierung eines Proseminars mit dem tollen Titel "Vergleich politischer Systeme" verfasst hab'. Ganz lustig war, als ich - wir waren gerade am diskutieren, warum denn in Lateinamerika die "politischen Systeme" so instabil seien - mal die harmlose Frage in die Runde warf, warum die Leutz eigentlich immer an der Ideologie der Nationalstaaten festhalten, wenn sie schon mal so weit sind und eventuelle Besserungs- und Lösungsvorschläge diskutieren. Der "Professor", der als einziger antwortete, meinte darauf mit etwas unbeholfenem, fast schon Mitleid erregendem Blick, aber wohlwissend, dass irgendetwas falsch läuft: "Ja... Wir müssen das halt so machen." Abgesehen davon ist es amüsant, dass der Begriff "Staat" im herrschaftswissenschaftlichen Diskurs in den neutraleren Begriff "poltisches System" umgewandelt wird. Weiters: Die Tatsache, dass sich eine Lehrveranstaltung ausschließlich mit dem "Vergleich politischer Systeme" befasst, zeigt wiedermal, wie es um das "Bildungssystem" bestellt ist; zumal dies in katastrophal unkritischer, positivistischer Weise geschieht...

Vorwort
1. Einleitung
2. Geschichte
2.1. Goulard 1961-1964
2.2. Autoritäres Regime 1964-1985
2.3. Die Regierung unter Jose Sarney (1985-1990) und die verfassungsgebende Versammlung 1987/88
2.4. Erste Direktwahlen eines demokratischen Präsidenten und die Korruptionsaffäre 1992
2.5. Präsidentschaftswahlen 1994 und Verfassungsänderung 1997
2.6. Wahlen 2002
2.7. 2002 bis in die Gegenwart
3. Politisches System
3.1. Die Exekutive
3.2. Die Legislative
3.3. Das Parteiensystem
3.4. Die Judikative
4. Das präsidentielle System Brasiliens im Vergleich mit dem präsidentiellen System der USA
5. Verkürzte Kritik und Eckpunkte für eine fortschrittliche Kritik
Literaturliste und Quellenverzeichnis

Vorwort

Brasilien gehört zu den größten und bevölkerungsreichsten Staaten der Erde. Wie der gesamte südamerikanische Kontinent ist auch Brasilien geprägt von starken regionalen Ungleichheiten: Gemessen an westlichen Industriestaaten zeigt sich im Süden eine Entwicklung, welche teilweise jenen von westlichen Demokratien gleichkommt. Im Gegensatz dazu steht ein rückständiger, oft oligarchisch beherrschter Norden und Nordosten. Brasilien befindet sich noch immer in einem Transformationsprozess, welcher nicht nur die permanente Korruption seitens PolitikerInnen und WirtschaftlerInnen unterbinden soll, sondern der auch die Demokratiequalität und damit die (kapitalistische) Stabilität des Staates steigern soll. Seit der Verfassung von 1988 ist Brasilien eine föderative Bundesrepublik, die sich nach einer Umfrage in der Bevölkerung im Jahre 1993 über die Staats- (Monarchie oder Republik) und Regierungsform (präsidentielles oder parlamentarisches System) zu einer präsidentiellen Republik entwickelte. Offiziellen Wahlergebnissen zufolge wurde mit großer Mehrheit entschieden: 87 % der (wahlberechtigten) BürgerInnen sprachen sich für die Form einer Republik aus. Das jetzt vorherrschende präsidentielle System legitimierten 69 %. Diese Kombination festigte sich unter dem zweiten für vier Jahre direkt gewählten, ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-1999; 1999-2003). [1]

Mit der Amtsübergabe an das derzeitige Staatsoberhaupt Luiz Inácio Lula da Silva endete im Januar 2003 die zweite Regierungszeit von Präsident Cardoso. Doch muss hier angefügt werden, dass alle offiziellen Wahlergebnisse mit größter Vorsicht zu behandeln sind. Zu sehr ist der Staat Brasilien von Korruption, Stimmenkauf, staatlicher Willkür, Repression gegenüber fortschrittlichen Strömungen und Untransparenz geprägt. [2]

1. Einleitung

Mit dieser Arbeit will ich eine kurze, kritische Bestandsaufnahme über die Situation im Staat Brasilien geben. Nach der Geschichte gehe ich auf das derzeitige politische System in Brasilien ein um danach etwaige Parallelen mit dem präsidentiellen System der USA aufzuzeigen. Zum Schluss schneide ich noch Gründe für die Instabilität des brasilianischen Staates auf der Grundlage von Sartori an und versuche, Eckpunkte für eine fortschrittliche Kritik an der Ideologie der Nationalstaaten zu geben, bei welcher ich es für sinnvoll und nötig hielt, zwei längere Zitate einzubauen.

Bei Quellen aus dem Internet habe ich das Abrufdatum nach der URL eingeklammert.

2. Geschichte

Ein Abriss der Geschichte ab 1961 soll einerseits veranschaulichen, wie es zur Verfassung von 1988 und deren Änderung im Jahr 1997 kam, und andererseits die Entwicklung hin zur aktuellen Situation aufzeigen.

2.1. Goulard 1961-1964

1961 kam der letzte Zivilist vor dem Zusammenbruch der Demokratie an die Macht: Goulard kehrte zur präsidialen Verfassung von 1891 (nach US-Vorbild) zurück, was eine große Kabinettskrise auslöste. Unter Goulards Regierung begannen verstärkt Landenteignungen, Ölraffinerien wurden verstaatlicht und der Handel wurde unter Exporteinschränkungen gesetzt. 1964 wurde Goulard durch die Armee gestürzt und floh nach Uruguay. Der Beginn einer 21 Jahre dauernden Militärdiktatur war die Folge, deren Gründe bis in die erste Jahrhunderthälfte zurückverfolgt werden müssen. [3]

"Die Militärs verzichteten darauf, den Kongress aufzulösen, doch installierten sie sich bald nach dem Putsch mit dem 'institutionellen Akt Nr. 1' als Träger der höchsten Staatsgewalt. Zahlreiche Mandats- und Amtsträger wurden ihrer Funktionen enthoben und ins Exil vertrieben." [4]

2.2. Autoritäres Regime 1964-1985

Das autoritäre Regime von 1964-1985 begann erste Schritte hin zu einer Liberalisierung und zu einem demokratischen Transformationsprozess nach der Machtübernahme durch General Geisel im März 1974. [5]

Bis dahin hatten General Branco (ab 1964), Kriegsminister Costa e Silva (ab 1966), und General Médici (ab 1969) das Amt des Präsidenten inne. Allen drei gemeinsam war ein repressives Regime gegenüber Oppositionen (Verbote!), bürgerlichen Freiheiten und fortschrittlichen Aktivitäten. Erst als 1974 General Geisel, ehemaliger Präsident der Ölmonopolgesellschaft Petrobas, zum Staatsoberhaupt wird, eröffnen sich minimale fortschrittliche Tendenzen: Er hob Zensuren auf und gestattete erstmals wieder oppositionelle Parteien, wobei drei Jahre später, 1977, die Kontrollen wieder verstärkt wurden. [6]

Der Transformationsprozess wurde ab 1979 unter dem nächsten Präsidenten Figueiredo fortgesetzt. 1984 erlebte Brasilien unter ihm die größte politische Mobilisierung seiner Geschichte: Für die Kampagne Diretas Já zur Durchführung einer Direktwahl eines demokratischen Präsidenten gingen Millionen von Menschen auf die Strasse. Die damals aber noch sehr einflussreichen Streitkräfte bestanden jedoch auf eine indirekte Wahl der ersten zivilen Regierung seit 1964. Der nun von einem Wahlmännergremium im Januar 1985 zum Präsidenten gewählte Tancredo Neves, der aufgrund seiner persönlichen Integrität und Popularität auch von der Regimeopposition akzeptiert wurde, verstarb, bevor er sein Amt überhaupt antreten konnte. [7]

Stattdessen übernahm die Präsidentschaft der gewählte Vizepräsident José Sarney, "ein patronageorientierter Politiker mit guten Beziehungen zu den Militärs" [8].

2.3. Die Regierung unter José Sarney (1985-1990) und die verfassungsgebende Versammlung 1987/88

Im Juni 1985 beschloss der Kongress nach einer Initiative Sarneys, den Ende 1986 zu wählenden Kongress als verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dafür wurde eine Kommission von Verfassungsspezialisten unter der Leitung des Staatsrechtlers Afonso Arinos gebildet, die Vorschläge für eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Unter anderem sahen diese Vorschläge einen Übergang zu einem parlamentarischen System und die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre vor. [9]

"Zunächst als elitär und anti-reformistisch gebrandmarkt, geriet die Commissão Arinos im Laufe ihrer Arbeit zunehmend in die Kritik der Konservativen. Auch Sarney sah seine Vorstellungen bezüglich der Arbeit der Kommission enttäuscht." [10]

Aus diesem Grund legte er die Verfassungsvorschläge dem 1986 gewählten Kongress nicht vor, was zur Folge hatte, dass dieser die Verhandlungen zur neuen Verfassung nur "auf der Grundlage von Einzelvorschlägen der insgesamt 24 Fachkommissionen Mitte 1987" [11] antreten konnte.

Die Kommission "sah im institutionelle Bereich wiederum die Einführung eines parlamentarisches Systems und die Kürzung der Amtszeit des Präsidenten vor (Bruneau 1990: 185). Jedoch: die am 22. Oktober 1988 letztlich verabschiedete Verfassung enthielt - ungeachtet ihrer außerordentlich extensiven und zum Teil sehr fortschrittlichen Regelungen etwa im Bereich der sozialen Rechte oder des Umweltschutzes - hinsichtlich der institutionellen Organisation des Regierungssystems kaum innovative Elemente oder grundlegende Reformen. Zwar vollzog man einen deutlichen Bruch im Verhältnis zur Verfassung von 1967, griff dabei aber in zentralen Bereichen auf Regelungen zurück, die so oder ähnlich bereits 1945-1964 gegolten hatten." [12]

Die Verfassung sah letztendlich folgende formale Merkmale des Regierungssystems vor: Ein für fünf Jahre [13] nach dem direkten Mehrheitswahlsystem gewählter Präsident mit Ministerrat stellt die Regierung. Für das Parlament sah mensch ein starkes Zweikammernsystem vor: Abgeordnete werden für vier Jahre per einfachem Wahlzahlverfahren mit Präferenzstimme gewählt - Senatoren mittels relativer Mehrheitswahl für die Dauer von acht Jahren, wobei alle vier Jahre 1/3 bzw. 2/3 neu gewählt werden. Als Judikative wurde ein Verfassungsgericht mit Schiedsfunktion eingesetzt. [14]

2.4. Erste Direktwahlen eines demokratischen Präsidenten und die Korruptionsaffäre 1992

Mit dem Amtsantritt des ersten direkt gewählten demokratischen Präsidenten auf eine Regierungsperiode von vier Jahren wurde 1990 von offizieller Seite das Ende des Transformationsprozesses hin zu einer rechtsstaatlichen Demokratie festgestellt. [15]

Der erste durch direkte Wahlen legitimierte Präsident seit 29 Jahren war Fernando Collor de Mello. Er verbrachte die ersten Monate seiner Amtszeit damit, die ungeheuer hohe Inflation zu bekämpfen, welche zeitweise bis zu 25 Prozent monatlich erreichte. Unter dem Motto Kein Geld, keine Inflation beschlagnahmte [16] er alle Ersparnisse auf den Bankkonten der BürgerInnen, was dazu führte, dass ihn sein Bruder Pedro im Jahr 1992 mit schweren Korruptionsvorwürfen belastete. Die immer dichter gewordenen Beweise für Bestechlichkeit und Veruntreung von Staatsgeldern zogen Massendemonstrationen und Unruhen in den großen Städten nach sich, die von der Polizei blutig niedergeschlagen wurden. Im Oktober 1992 hatte daraufhin der Kongress beschlossen, dass Collor de Mello abgesetzt wurde. Am 19. Dezember 1992, während ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn lief, trat der Präsident zurück. Zwei Jahre später, im Dezember 1994, sprach der Oberste Gerichtshof Collor de Mello von allen Korruptionsvorwürfen frei. Alleinig ein Ausschluss von acht Jahren bei öffentlichen Ämtern war die Konsequenz. [17]

Heute weiß mensch, dass das Paar PC Farias und Collor de Mello insgesamt 2,5 Milliarden Reais (umgerechnet: 850 Mio. Euro) vom Staat illegal auf ihre eigenen Konten transferiert hatten. [18]

Das Mandat des Präsidenten bis 1994 führte Vizepräsident Itamar Franco zu Ende. Zusammen mit dem seit Mai 1993 neuen Finanzminister Fernando Henrique Cardoso, welcher den drei Säulen umfassenden Plano Real [19] zur Stabilisierung der brasilianischen Volkswirtschaft ausgearbeitet hatte, gelang es nur anfangs, den Staatsapparat nach mehreren gescheiterten Anläufen erfolgreich zu reformieren und die Hochinflation teilweise zu dämmen. [20]

Mit dem Plano Real wurde die Währung Real eingeführt. Dieses Reformvorhaben entsprach im Großen und Ganzen den neoliberalen Reformprogrammen, wie sie von internationalen Finanz- und Schuldnerorganisationen (IWF, Weltbank, Pariser Club) seit den 80er Jahren für Entwicklungsländer eingefordert werden: Öffnung protektionierter Binnenmärkte, Deregulierung, Privatisierung und Rückzug des Staates aus der Ökonomie, Transparenz in Bürokratie, Finanzmärkten und wirtschaftlichen Entscheidungsinstanzen. Die Bereiche der Reformpolitik umfassten die Steuerpolitik, den Sozialbereich, den öffentlichen Sektor und den bürokratischen Apparat. [21]

2.5. Präsidentschaftswahlen 1994 und Verfassungsänderung 1997

Wegen dem anfänglichen Erfolgs des Plano Real hinsichtlich der Inflationsbekämpfung, trat der ehemalige Finanzminister und Sozialdemokrat Cardoso zu den Präsidentschaftswahlen im April 1994 an. Mit der Unterstützung einer zusammengewürfelten Allianz aus seiner eigenen Partei, der PDSB, und zwei Mitte-Rechts-Parteien, der Liberalen Front und der Brasilianischen Arbeitspartei, bestritt er erfolgreich die Wahlen. Das offizielle Wahlergebnis machte den renommierten Soziologen zum neuen Präsidenten. Erst nach der Wahl, im Jahre 1996, stießen zwei weitere Parteien zur Regierungskoalition: Die PMDB, die zentristische Partei der demokratischen Bewegung, de größte Partei Brasiliens, und die Brasilianische Fortschrittspartei. [22]

Unter dieser Koalition trat auch die erste Verfassungsänderung in Kraft: 1997 einigte sich das Parlament über die Möglichkeit einer Wiederwahl des Staatsoberhauptes. Somit erschloss sich Cardoso die Möglichkeit, ein zweites Mal zu Präsidentschaftswahlen anzutreten, welche er wegen noch immer erfolgreicher Eindämmung der Inflation - und somit hoher Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung - ausnutzen konnte. 1998 wurde er laut offiziellen Stellen mit 53 % der Stimmen als erster ziviler Präsident Brasiliens wiedergewählt. Sein damaliger stärkster Konkurrent war der jetzige Präsident und Vorsitzende der PT (Sozialistische ArbeiterInnenpartei) Luiz Inácio da Silva, welcher bei denselben Wahlen nur 32 % der Stimmen für sich beanspruchen konnte. Die zweite Amtszeit von Cardoso wird ausserdem von den Eliten gern als Zeugnis für die Festigung einer brasilianischen Demokratie angesehen. [23]

Ausgeklammert wird dabei die Tatsache, dass der anfänglich so gelobte Plano Real seine langfristigen und damit wichtigsten Ziele, die Staatsausgaben zu senken bzw. selektiver und damit effizienter einsetzen zu können, nicht erreichen konnte:

"Ein sehr offensichtlicher Grund für das Scheitern der bisherigen Reformbemühungen ist die Tatsache, daß Verfassungsänderungen im Kongreß lediglich mit einer 3/5 Mehrheit zustande kommen können, wobei zu berücksichtigen ist, daß aufgrund fehlender Parteidisziplin die entsprechenden Mehrheiten nur unter großen Schwierigkeiten und Zugeständnissen (u.U. Verwässerung der Reformvorhaben) zustande kommen. Cardoso kann sich auf keine gesicherte Mehrheit im Kongreß stützen. Diese wechselt ständig, es müssen bei jeder Vorlage verschiedenste Partikularinteressen berücksichtigt werden. Allerdings müssen in diesem Zusammenhang v.a. die internen Ursachen für die Implementierungsschwäche und Reformresistenz brasilianischer Politik betont werden. Die 1994 zunächst abgeschlossene politische Transformationsphase Brasiliens brachte ein politisches System hervor, das die Durchsetzung struktureller Reformen sehr erschwert: Regierung und Kongreß befinden sich in einer ständigen Blockadesituation. Das schwache Parteiensystem und fehlende Parteidisziplin sowie föderale Gewaltenteilung machen Mehrheitsfindungen enorm schwierig. Potentielle Reformverlierer haben eine zu starke Position und genügend Obstruktionspotential, um Reformen zu verhindern." [24]

Das Ergebnis war die Abwertung des Reals im Januar 1999, ein marginales Wirtschaftswachstum bei hoher Arbeitslosigkeit und ein Amtsenthebungsverfahren gegen Cardoso, eingeleitet im Mai 1999, welches jedoch ohne Folgen blieb. [25]

Damit waren die Legitimationsressourcen für eine Wiederwahl eines Präsidenten derselben Partei bzw. des selben Wahlbündnisses aufgebraucht und der Weg für die Opposition war geebnet.

2.6. Wahlen 2002

"Die Regierung Cardoso hat also ungelöste Schlüsselaufgaben in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Stabilisierung der demokratischen Repräsentations- und Einstellungsmuster der BürgerInnen, Reform der vorhandenen Markt- und Wettbewerbsordnung sowie Sicherung der Nachhaltigkeit ökonomischer Entwicklung hinterlassen." [26]

Nicht zuletzt muss mensch hinzufügen, dass auch ein noch immer untransparenter und von Korruption durchdrungener bürokratischer Apparat, die ungerechte Verteilung von Grund und Boden, polizeiliche Folterungen und Exekutionen, Sklavenarbeit im Norden und Nordosten und Drogenhandel, welcher bis in höchste politische und wirtschaftliche Spitzen reicht, das Leben der Menschen erschwert und in vielen Fällen auch unmöglich macht. [27]

Der momentane Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva oder auch nur Lula genannt, gewann erst nach mehrmaligem Antreten [28] zu Präsidentschaftswahlen im Oktober 2002 bei einer Stichwahl. [29]

Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2002
Wahlgang 06.10.2002 Wahlgang 27.10.2002
Lula (PT) 46,0% 61,0%
Serra (PSDB) 23,0% 39,0%
Garotinho (PSB) 18,0% -
Ciro Gomes (PPS) 12,0% -
Zé Maria (PSTU) 0,5% -
Ruy Costa (PCO) 0,0% -

"Lula selbst hat die Ausgangslage seiner Regierung mit dem Untergang der Titanic verglichen: Es sei nicht so gewesen, dass ein Zusammenstoß mit dem Eisberg gedroht hätte, nein, Brasilien sei im Jahre 2002 mit dem Eisberg zusammengestoßen." [30]

Seine Partei, die PT, "hat sich in den letzten zwei Dekaden eine Führungsrolle in der Opposition erarbeitet und ist längst zum wichtigsten Kritiker der Regierung aufgestiegen. Das sie nun stärkste Partei geworden ist und ihr Kandidat Lula zum Präsidenten gewählt wurde, kann man von einer Wendewahl sprechen." [31]

Im Oktober 2002 wurden aber nicht nur Präsidentschaftswahlen abgehalten: Auch die 27 Gouverneursposten sowie die Legislative auf Bundes- und Landesebene wurden neu besetzt. [32]

Ergebnisse der Gouverneurswahlen im Oktober 2002 (Die Zahl zeigt, wieviele Bundesstaatsregierungen die jeweilige Partei stellt)
Brasilianische sozialdemokratische Partei (PSDB) 7
Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) 5
Liberale Front (PFL) 4
Sozialistische Arbeiterpartei (PT) 3
Sonstige 8


Ergebnisse der Parlamentswahlen im Oktober 2002 (Mandatsverteilung)
Wahlgang 06.10.2002
Senado Federal (Föderative Senat) Câmara dos Deputados (Abgeordnetenkammer)
81 Sitze, 54 neu gewählt 513 Sitze, alle neu gewählt
Sozialistische Arbeiterpartei (PT): 14 PT: 91
Liberale Front (PFL): 19 PFL: 84
Partei der demokratischen Bewegung (PMDB): 19 PMDB: 74
Brasilianische sozialdemokratische Partei (PSDB): 11 PSDB: 11
Demokratische Arbeitspartei (PDT): 5 PDT: 21
Sozialprogressive Partei (PSB): 4 PSB: 22
Brasilianische Arbeitspartei (PTB): 3 PTB: 26
Liberale Partei (PL): 3 PL: 26
Brasilianische Fortschrittspartei (PPB): 1 PPB: 49
Kommunistische Partei Brasilien (PCdoB): 0 PCdoB: 12
Sonstige: 2 Sonstige: 22


Der ursprünglich zum größten Teil sozialistische Ziele verfolgende Lula präsentierte sich bis zu den Wahlen im Oktober 2002 immer in klassenbewusster Optik [33], womit er bei vielen BürgerInnen zwar beliebt war. Jedoch reichte sein Beliebtheitsgrad bisher nicht aus, um Wahlen zu gewinnen. Vielmehr war das Rezept zum Erfolg Lulas ein Abweichen von sozialistischen Zielen: Für einen Wahlsieg musste Lula auch mit dem (globalen) Großkapital und dessen Interessen Konsens erzeugen. So zog er seine Forderungen, Brasiliens Auslandsschulden (rund 260 Milliarden Dollar) nicht begleichen zu wollen, zurück, trat fortan in Krawatte und Anzug auf und verzichtete bewusst auf sein Arbeiterimage. Als er dann noch ein Wahlbündnis mit der PL, der liberalen Partei Brasiliens, einging und dessen Vorstand José Alcenar, ein Großunternehmer, bei einem Wahlsieg den Posten des Vizepräsidenten zusagte, wurden auch die Bedenken der profitorientierten Wirtschafts- und Finanzwelt langsam weniger und eine Vertrauensbasis mit der Industrie bahnte sich an. [34]

Lulas Wahlkampf übertraf in Folge alle anderen Elitekandidaten: Noch nie hatte einer, der nicht aus den bisherigen rechten Eliten aus Politik und Wirtschaft stammte, so eine Materialschlacht zustande bekommen: "der teuerste, bisher nur von Rechten eingekaufte Wahlmanager, die besten, aufwändigsten Werbespots, die zugkräftigste, teuerste Sertaneja-Band für die Kundgebungen, die meisten Poster, Aufkleber, Fahnen." [35]

Sogar der Internationale Währungsfond (IWF) begrüßte nach der überraschenden Nachricht kurz vor den Präsidentschaftswahlen, dass ein Vertreter eines großen Automobilkonzerns eine neue Modellreihe in Brasilien produzieren und somit neue Arbeitsplätze schaffen werde, die Wahl des ehemaligen Gewerkschaftsführers Lula mit einem Rekordkredit in der Höhe von 30,4 Milliarden Dollar. [36]

Nicht zuletzt zerstreute Lula weitere Bedenken der internationalen Eliten mit der noch vor seiner Vereidigung am 10.12.2002 angenommenen Einladung von US-Präsident George W. Bush. Mittelpunkt der Gespräche waren Wirtschaftsthemen. [37]

2.7. 2002 bis in die Gegenwart

Die ersten Monate der neuen Regierung waren geprägt durch eine nicht zu knappe Sparpolitik:

"Bekämpfung der Inflation sowie Kontrolle der externen wie internen Verschuldung bildeten die Priorität für diese Phase der neuen Regierung. Damit enttäuschte sie viele, die auf eine schnelle Implementierung einer sozialen Reformpolitik gehofft hatten. Tatsächlich sind wesentliche Reformprojekte (Null-Hunger-Programm, Landreform) bisher kaum vorangekommen." [38]

Diese Feststellung stammt noch von einem Beobachtungszeitraum Ende 2003/Anfang 2004. Jedoch erreichte Fome Zero [39] im Dezember 2004 mit einem Umfang von umgerechnet 1,77 Milliarden Euro 6.571.842 Familien, was auf einen oberflächlichen Blick zusammen mit dem im Januar 2004 beschlossenen Gesetz für ein Grundeinkommen [40] eine sehr positive Entwicklung feststellen lassen könnte. Tatsache ist aber, dass die Kriterien für diesen Leistungsbezug sehr niedrig angesetzt sind. [41]

"Es mag erlaubt sein zu fragen, unter welchen Verhältnissen die Leistungsbeziehenden eine solche Aufbesserung finden werden. Die Antwort ist nur eine: unter denselben Verhältnissen wie vorher auch - ihre Lage bessert sich dadurch um nichts. Die Geschichte der Akkumulation in Brasilien weist eine perverse Logik auf: Selbst wenn die Wirtschaft wächst, verschärft sich die Ungleichheit und die absolute Armut nimmt zu." [42]

Ein weiteres Problem stellt die nicht vorhandene Parlamentsmehrheit Lulas dar. Zusammen mit der nicht vorhandenen Mehrheit der Gouverneure wird seine politische Arbeit deswegen deutlich erschwert. [43]

Dazu kommt die aktuelle Korruptionsaffäre um Lula: Allein die Konten von Marcos Valério haben schon umgerechnet eine Milliarde Euro an Korruptionsgeldern bewegt. [44] Ein ehemaliges Parteimitglied der PT [45] schrieb im Januar 2005 von einer miserablen Bilanz, die Lula seit seiner Wahl hinterlassen hat. Korrupte Beamten sind für einen Großteil der Sozialpolitik zuständig. Dazu kommt, dass die meisten Programme schlecht gemanagt werden. Deshalb hat sich in den vergangenen zwei Jahren nichts geändert und Lula führt die Politik seines sozialdemokratischen Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso weiter. [46]

Umfragen im September 2005 zufolge verlor Lula enorm an Zustimmung für seine Amtsführung: Nur noch 50 Prozent der befragten äußerten sich positiv und 49,5 Prozent glauben, dass Lula über die korrupten Machenschaften seiner MitarbeiterInnen informiert war. [47]

3. Politisches System

Brasilien ist eine Föderative Republik unter einem präsidentiellen Regierungssystem [48], in der das Prinzip der Gewaltenteilung nach Montesquieu Anwendung findet [49]: Es gibt Exekutive, Legislative und Judikative. Anhand dieser Unterscheidung wird im Folgenden genauer auf Regierung, Parlament, Parteiensystem und Obersten Gerichtshof eingegangen.

Ergebnisse des Volksentscheids zur Regierungssystemumfrage in Brasilien 1993 [50]
Regierungsform Anteil in % Regierungssystem Anteil in %
Republik 66,7 Präsidentialismus 55,5
Monarchie 10,2 Parlamentarismus 24,7
Leere Stimmzettel 10,5 Leere Stimmzettel 5,2
Ungültige Stimmen 13,2 Ungültige Stimmen 13,2
Wahlbeteiligung 74,3 Wahlbeteiligung 74,3


3.1. Die Exekutive

Die Exekutive setzt sich aus dem Staatsoberhaupt (PräsidentIn), seinem/ihrem Vertreter (VizepräsidentIn) und seinem/ihrem Kabinett (MinisterInnenrat) zusammen.

Der/die PräsidentIn wird für eine Amtsperiode für vier Jahre direkt vom Volk gewählt. Eine einmalige Wiederwahl ist nach der Verfassungsänderung 1997 für eine zweite, unmittelbare Amtsperiode möglich. Der/die PräsidentIn ist Staats- und RegierungschefIn und besitzt eine weitreichende exekutive Gewalt: Weiters stellt er/sie das Kabinett zusammen.

Die Wahl des Vizepräsidenten/der Vizepräsidentin fällt mit den Präsidentschaftswahlen zusammen. Hier gelten die gleichen Regelungen wie für den Präsidenten/die Präsidentin.

Lulas Kabinett besteht derzeit aus 26 MinisterInnen, von denen seine Partei (PT) zur Zeit 13 besetzt. Zum Kabinettschef wurde José Dirceu ernannt. Die Leitung einiger Schlüsselministerien besetzte Lula mit parteilosen Fachleuten. [51]

3.2. Die Legislative

Der Congresso Nacional [52] stellt die Legislative dar und zergliedert sich in zwei Kammern: aus dem Senado Federal [53] und der Câmara dos Deputados [54].

Der Senado Federal setzt sich aus 81 Abgeordneten zusammen, von denen jeweils drei aus jedem der 26 Bundesstaaten entsendet werden. Die Senatsabgeordneten werden nach dem Mehrheitswahlrecht für eine achtjährige Amtsperiode bestimmt. Nach vier Jahren wird ein Drittel der SenatorInnen neu gewählt und nach weiteren vier Jahren die restlichen zwei Drittel.

Die Câmara dos Deputados besteht aus 513 Sitzen. Die Mitglieder werden nach dem Verhältniswahlrecht für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt. [55]

3.3. Das Parteiensystem

Das Parteiensystem Brasiliens zählt zu den am wenigsten gefestigten Parteiensystemen in Lateinamerika. An die 20 Parteien sind im Kongress vertreten und machen die Verabschiedung von Reformvorhaben schwer. Hinzu kommt, dass PolitikerInnen sich nur beschränkt an Parteidisziplin oder an Wahlversprechen halten. Beobachtungen zeigen permanent, dass die gewählten ParlamentarierInnen sehr oft ihre Parteien verlassen um zu anderen zu wechseln, die wiederum verlassen, wieder zu einer anderen wechseln, und so weiter. [56]

"Der Umstand, daß die meisten Parteien als Instanzen der Willensbildung im redemokratisierten Brasilien eine nur marginale Rolle zu spielen vermögen und nicht viel mehr darstellen als auswechselbare Vehikel 'politischen Unternehmertums', hat verschiedene Gründe." [57]

Nohlen und Thibaut führen als Gründe in Anlehnung an Mainwaring neben dem historischen Verhältnis zwischen Staat und Parteien und der Regionalstruktur des Landes auch die institutionellen Bedingungen der politischen Vertretung an. So machen sie die Parteiengesetzgebung, das Wahlrecht und die lose gebundene Listenwahl für eine personalisierte Orientierung der Mandatsträger im Kongress verantwortlich. [58]

Darum hängt der Wahlerfolg der KandidatInnen vor allem von ihrer eigenen Kapazität was Charisma, Präsentation und finanzielle Ressourcen betrifft, ab. Mitunter ist dies auch ein Grund dafür, dass sich die gewählten ParlamentarierInnen nur ungern in die Parteidisziplin einfügen und zudem sehr anfällig für Korruption sind:

"Da die mitgliederschwachen Parteien nur über beschränkte eigene Einnahmen verfügen und die öffentliche Finanzierung durch den Staat nur sehr bescheiden ausfällt, müssen sich die Kandidaten nach privaten Geldgebern umsehen. Dadurch entstehen Verfplichtungen, die die Integrität bei der späteren Amtsausübung in Gefahr bringt." [59]

3.4. Die Judikative

Für die Rechtsprechung ist der Supremo Tribunal Federal [60] zuständig. Als dritte Gewalt soll er BürgerInnenrechte und Rechtsstaatlichkeit sichern. Auch hier lassen sich große Probleme bei der praktischen Umsetzung ausmachen: Die Jahres- und Länderberichte von Amnesty International schildern zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten, aber auch gegenüber Indianern, Strassenkindern und anderen Menschen. Missbrauch von Polizei gegen Unterschichtsangehörige, Korruptionsanfälligkeit der Gerichte und Straflosigkeit für Bessergestellte stellen den Alltag in Brasilien dar. [61]

4. Das präsidentielle System Brasiliens im Vergleich mit dem präsidentiellen System der USA

Mensch sieht anhand dieser Arbeit, dass das präsidentielle Regierungssystem Brasiliens sehr instabil und teilweise regierungsunfähig ist. Zudem lässt sich feststellen, dass präsidentielle Regierungssysteme in lateinamerikanischen Staaten generell eine hohe Instabilität aufweisen. Im Gegensatz dazu steht der stabile und seit Jahrzehnten gefestigte Präsidentialimus in den USA. [62]

Bevor hier der Frage nach den Gründen dafür nachgegangen wird, ist es von Vorteil, wenn mensch erst die zwei Regierungssysteme in Brasilien und in den USA gegenüberstellt und deren formale Unterschiede herausarbeitet. [63]

Formale Unterschiede der präsidentiellen Regierungssysteme in Brasilien und in den USA
Brasilien USA
Keine Wahlmänner Wahlmänner zwischen PräsidentIn und "Volk"
Câmara dos Deputados
513 Abgeordnete für 4 Jahre gewählt regieren für knapp 185 Mio. BürgerInnen
US-Repräsentantenhaus
435 Abgeordnete für 2 Jahre gewählt regieren für knapp 300 Mio. BürgerInnen
Senado Federal
81 Abgeordnete (jeder Bundesstaat entsendet mindestens drei - unabhängig von der EinwohnerInnenzahl) für eine achtjährige Amtsszeit Neuwahlen von 1/3 nach vier Jahren, nach weiteren vier Jahren die restlichen 2/3
US-Senat
100 Abgeordnete (jeder Bundesstaat entsendet mindestens zwei - unabhängig von der EinwohnerInnenzahl) für eine sechsjährige Amtszeit Neuwahlen von 1/3 nach allen zwei Jahren
Weite Parteienlandschaft mit über 20 Parteien Zwei Parteien (RepublikanerInnen und DemokratInnen)


Mensch sieht anhand dieser Unterscheidung, dass die Gründe für die Instabilität des brasilianischen Staatsapparates nur teilweise von formalen Unterschieden abhängen können. Weder eine unterschiedliche Anzahl von Abgeordneten in den Kammern noch unterschiedlich lange Amtsperioden dürften Einfluss auf die Stabilität eines Regierungssystems haben. Interessanter ist auf jeden Fall die unterschiedliche Parteienlandschaft. Hier setzt auch Sartori an, wenn er nach Gründen für die Probleme der lateinamerikanischen präsidentiellen Systeme sucht:

"What is wrong, then, with Latin American presidentialism? The previous analysis of the model, of the US prototype, facilitates the answer. That the presidential systems are strong systems of energetic government has never been quite true for the US, and is clearly an illusion leading to delusion in the countries that seek inspiration from the Washington model. One problem is, of course, that many Latin American presidentialisms sit upon 'wrong' party systems." [64]

Zusammen mit einem - wie zuvor schon angeschnitten - undiszipliniertem Verhalten von ParteipolitikerInnen gestaltet sich der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess sehr schwierig, weil dem brasilianischen Präsidenten in vielen Fällen die nötigen Mehrheiten im Congresso Nacional fehlen.

Sartori führt in Anlehnung an Mainwaring aus: "But the major line of argument, and the one to be pursued first, ist that Latin American presidents are by no means as all-powerful as they may appear. Quite to the contrary, 'most Latin American Presidents have had trouble accomplishing their agendas. They have held most of the power for initiating policy but have found it hard to get support for implementing policy' (Mainwaring, 1990, p. 162)." [65]

5. Verkürzte Kritik und Eckpunkte für eine fortschrittliche Kritik

Einerseits also kann mensch argumentieren [66], dass der brasilianische Präsidentialismus nicht optimal auf brasilianische Verhältnisse "abgestimmt" ist bzw. es bei der politischen Kultur des Staates gar nicht erst möglich ist. Auch ein parlamentarisches Regierungssystem, wie es sich mit seinen mehr oder weniger großen Unterschieden in allen anderen westlichen Industriestaaten etabliert hat, dürfte nicht zu einer größeren Stabilität des brasilianischen Staates beitragen.

Hierzu stellt Sartori fest: "The point ist that party solidification and discipline (in parliamentary voting) has never been a feedback of parliamentary government. If a system is assembly-based, atomized, unruly, magmatic, on its own inertia it will remain as it is. I cannot think of any party system that has evolved into a veritable 'system' made of strong, organization-based mass parties on the basis of internal parliamentary learning. The metamorphosis from an unstructured to a structured party system has always been triggered by exogenous assault and contagion. The earlier parties of notables and of opinion either perished or changed their ways in response to the challenge of externally created (and largely anti-system) mass parties characterized by strong ideological ties and fervor. Now, all the foregoing elements are notably absent in Brasil. Furthermore, the anti-party creed and rhetoric (let alone a typically anti-party electoral legislation) that permeates the country make any kind of parliamentary-fit parties not only unlikely, but altogether inconceivable. The point is, then, that the current Braszilian political culture and tradition nurtures parliamentary experience would lead Brazil out of chaos into some kind of efficient parliamentary government is, in my opinion, against all odds." [67]

Andererseits: Wenn es nun darum geht, ein "richtiges", weil "funktionierendes" politisches System in Brasilien etablieren zu wollen, dann muss in jedem Fall zuerst gefragt werden, für wen es denn funktionieren soll und ob es überhaupt funktionieren kann. Demokratische Systeme innerhalb des globalen Kapitalismus, die Wohlstand und Gerechtigkeit für alle Menschen innerhalb der eigenen Staatsgrenzen beanspruchen, mögen sie sich präsidentiell, semi-präsidentiell oder parlamentarisch nennen, haben überall mit Problemen zu kämpfen. Ein Diskurs so wie ihn Sartori und andere PolitikwissenschaftlerInnen führen, greift meines Erachtens zu kurz. Einerseits kann mensch keinen Staat unabhängig von der internationalen, weltumspannenden Staatengemeinschaft sehen. Andererseits handelt ein politisches System nicht nach Interessen und Bedürfnissen, die von den darin lebenden Menschen artikuliert werden. Viel mehr handelt es sich bei einem Staat in der kapitalistischen Weltordnung um einen "Staat des Kapitals" [68].

Hierzu führt Paulus aus: "Aus bürgerlicher Sicht stellt sich der Staat als eine allgemeine Instanz, als Norm, als Idee, als Verfassungswirklichkeit dar, die scheinbar mit der unmittelbaren Bewegung des Kapitals und mit den daraus verbundenen Klassenwidersprüchen wenig zu tun hat. Seinen Realitätscharakter allerdings erhält der Staat durch die Organisation der Gesellschaft bzw. der Klassenverhältnisse auf der einen Seite und die Rahmenbedingungen von Produktion und vor allem der Zirkulation auf der anderen Seite. 'Die reale Funktion des Staates als Gesellschaftspartner wächst dem Staat insofern aus der Kapitalbewegung zu, als der Akkumulationszwang die Tätigkeit des Kapitals auf die eigene Verwertung und Realisierung, als auf die bloß ökonomische Reproduktion einengt. Dies gilt erst recht bei der allgemeinen Verrechtlichung des Klassenverhältnisses, sobald dieses sich als gesellschaftlicher Antagonismus und die Sphäre der unkontrollierbaren Mehrwertproduktion und der unmittelbaren Konfrontation im Betrieb überschreitet' (Agnoli, 1995, S. 50). So hat die kapitalistische Produktionsweise einen ihren Bedürfnissen und der Struktur der kapitalistischen Akkumulation entsprechenden Staat geschaffen." [69]

Demnach ist es also von Notwendigkeit, die allgemeine Ideologie der Nationalstaaten von einem dem Kapitalismus gegenüber kritischen, egalitären und den menschlichen Bedürfnissen zugewandten Standpunkt aus zu betrachten.

Fußnoten:

[1] Vgl.: o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[2] Vgl.: o. A.: Wahlen und Stimmenkauf, http://www.topicos.net/fileadmin/pdf/2002/4/Wahlen_und_Stimmenkauf.pdf (13.04.2005), o. O., o. J.
[3] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Politische Organisation und Repräsentation in Amerika (Bd. 5), Opladen 1996, S. 132ff.
[4] Ebd, S. 135.
[5] Vgl.: o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[6] Vgl.: o. A.: Brasilien, http://www.usta.de/RefAk/Amnesty/brasilien.html (24.04.2005), o. O., o. J.
[7] Vgl.: o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[8] Ebd.
[9] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Politische Organisation und Repräsentation in Amerika (Bd. 5), Opladen 1996, S. 212ff.
[10] Ebd., S. 213.
[11] Ebd., S. 213f.
[12] Ebd., S. 214.
[13] Anm.: 1994 wurde die Amtszeit auf vier Jahre verkürzt.
[14] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Politische Organisation und Repräsentation in Amerika (Bd. 5), Opladen 1996, S. 215.
[15] Vgl.: o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[16] Anm.: Er verstaatlichte die Ersparnisse.
[17] Vgl.: o. A.: http://de.wikipedia.org/wiki/Fernando_Collor_de_Mello (13.04.2005), o. O., o. J.
[18] Vgl.: o. A.: http://www.indymedia.org//2005/08/124826.shtml (27.08.2005), o. O., August 2005.
[19] Anm.: dt. Real-Plan.
[20] Vgl.: o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[21] Vgl.: Albrecht, Holger: Interne Ursachen für die Krise des Plano Real: Die gescheiterte Reformpolitik, http://tiss.zdv.uni-tuebingen.de/webroot/sp/spsba01_s99-1/paper13c.htm (13.04.2005), o. O., o. J.
[22] Vgl.: o. A.: http://de.wikipedia.org/wiki/Fernando_Henrique_Cardoso (13.04.2005), o. O., o. J.
[23] Ebd.
[24] Albrecht, Holger: Interne Ursachen für die Krise des Plano Real: Die gescheiterte Reformpolitik, http://tiss.zdv.uni-tuebingen.de/webroot/sp/spsba01_s99-1/paper13c.htm (13.04.2005), o. O., o. J.
[25] Ebd.
[26] o. A.: Transformation: Brasilien, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005), o. O., o. J.
[27] Vgl.: o. A.: Brasilien, http://www.usta.de/RefAk/Amnesty/brasilien.html (24.04.2005), o. O., o. J.
[28] Anm.: Lula kämpfte bereits 1989 um das Präsidentenamt.
[29] Anm.: Die offiziellen Ergebnisse der Stichwahl siehe Abbildung 1, S. 10.
[30] o. A.: Politischer Jahresbericht, Mitte 2003 bis Mitte 2004, http://www.boell.de/downloads/jahresberichte2004/Rio2004.pdf (12.08.2005), o. O., o. J.
[31] Speck, Bruno Wilhelm: Demokratischer Reifetest, Brasilien nach der Präsidentenwahl; in: Herder Korrespondenz 57 1/2003, Januar 2003, S. 45.
[32] Anm.: Die offiziellen Ergebnisse dieser Wahlen siehe Abbildung 2 und Abbildung 3, S. 11.
[33] Anm.: Er verweigerte bis zum Oktober 2002 das Tragen eines Anzugs und bevorzugte "normale" Arbeitskleidung.
[34] Vgl.: o. A.: Brasiliens gerupfte Linke; in: Jungle World Nr. 41/2002, Oktober 2002, S. 16f.
[35] Ebd.
[36] Ebd.
[37] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im historischen Vergleich, Opladen 1996, S. 164.
[38] o. A.: Politischer Jahresbericht, Mitte 2003 bis Mitte 2004, http://www.boell.de/downloads/jahresberichte2004/Rio2004.pdf (12.08.2005), o. O., o. J.
[39] Anm.: dt. Null-Hunger.
[40] Anm.: Am 8. Januar 2004 wurde dieses Gesetz von Lula mit der Intention, das Grundeinkommen 2005 schrittweise einzuführen, unterzeichnet.
[41] Vgl.: Marques, Rosa Maria: Wie die Regierung Lula in Brasilien die Armut bekämpft, http://www.linksnet.de/artikel.php?id=1716 (13.04.2005), o. O., Mai 2005.
[42] Ebd.
[43] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im historischen Vergleich, Opladen 1996, S. 164.
[44] Vgl.: o. A.: http://www.indymedia.org//2005/08/124826.stml (27.08.2005), o. O., 2005.
[45] Anm.: Idelber Avelar war von 1981 bis 2004 PT-Mitglied und war vor dem Hurrikan "Katrina" Professor für lateinamerikanische Literatur an der Tulane University in New Orleans.
[46] Vgl.: Avelar, Idelber: Ein selbstverliebter Messias, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Brasilien/avelar.html (18.09.2005), o. O., Januar 2005.
[47] Vgl.: Popularität Lulas in Umfragen auf Tiefpunkt, http://derstandard.at/?id=2173957 (18.09.2005), o. O., September 2005.
[48] Anm.: Die offiziellen Ergebnisse der Umfrage zur Staats- und Regierungsform aus dem Jahre 1993 siehe Abbildung 4, S. 14.
[49] Vgl.: Sartori, Giovanni: Comparative Constitutional Engineering, 2nd ed., New York 1997, S. 83ff.
[50] Vgl.: Nohlen, Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Politische Organisation und Repräsentation in Amerika (Bd. 5), Opladen, 1996, S. 235.
[51] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im historischen Vergleich, Opladen 1996, S. 161f.
[52] Anm.: dt. Nationalkongress.
[53] Anm.: dt. föderativer Senat.
[54] Anm.: dt. Abgeordnetenkammer.
[55] Vgl.: Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im historischen Vergleich, Opladen 1996, S. 161f.
[56] Ebd., S. 256ff.
[57] Ebd., S. 258.
[58] Ebd.
[59] o. A.: Politisches System Brasiliens, Ein Blick auf das Parteiengefüge und das Wahlsystem, http://www.inwent.org/v-ez/lis/brasil/seite2.htm (06.04.2005), o. O., o. J.
[60] Anm.: dt. Föderativer Oberster Gerichtshof.
[61] Vgl.: o. A.: Brasilien, http://www.usta.de/RefAk/Amnesty/brasilien.html (24.04.2005), o. O., o. J.
[62] Vgl.: Sartori, Giovanni: Comparative Constitutional Engineering, 2nd ed., New York 1997, S. 91ff.
[63] Anm.: Siehe Abbildung 5, S. 17.
[64] Sartori, Giovanni: Comparative Constitutional Engineering, 2nd ed., New York 1997, S. 92.
[65] Ebd., S. 93.
[66] Anm.: Wenn mensch vom Standpunkt eines Sartori ausgeht.
[67] Sartori, Giovanni: Comparative Constitutional Engineering, 2nd ed., New York 1997, S. 95f.
[68] Vgl.: Agnoli, Johannes: Der Staat des Kapitals, Freiburg 1995, S. 45.
[69] Paulus, Stefan: Zur Kritik von Kapital und Staat in der kapitalistischen Globalisierung, Frankfurt a. M. 2003, S. 85f.

Literaturliste und Quellenverzeichnis

Bücher:
- Agnoli, Johannes: Der Staat des Kapitals, Freiburg 1995.
- Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im historischen Vergleich, Opladen 1996.
- Nohlen Dieter (Hg.), Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Politische Organisation und Repräsentation in Amerika (Bd. 5), Opladen 1996.
- Paulus, Stefan: Zur Kritik von Kapital und Staat in der kapitalistischen Globalisierung, Frankfurt a. M. 2003.
- Sartori, Giovanni: Comparative Constitutional Engineering, 2nd ed., New York 1997.

Zeitschriften:
- o. A.: Brasiliens gerupfte Linke; in: Jungle World Nr. 41/2002, Oktober 2002, S. 16f.
- Speck, Bruno Wilhelm: Demokratischer Reifetest, Brasilien nach der Präsidentenwahl; in: Herder Korrespondenz 57 1/2003, Januar 2003, S. 45f.

Internet:
- http://de.indymedia.org//2005/08/124826.shtml (27.08.2005).
- http://de.wikipedia.org/wiki/Fernando_Collor_de_Mello (13.04.2005).
- http://de.wikipedia.org/wiki/Fernando_Henrique_Cardoso (13.04.2005).
- http://derstandard.at/?id=2173957 (18.09.2005).
- http://tiss.zdv.uni-tuebingen.de/webroot/sp/spsba01_s99-1/paper13c.htm (13.04.2005).
- http://www.bertelsmann-transformation-index.de/110.0.html (13.04.2005).
- http://www.boell.de/downloads/jahresberichte2004/Rio2004.pdf (12.08.2005).
- http://www.inwent.org/v-ez/lis/brasil/seite2.htm (06.04.2005).
- http://www.linksnet.de/artikel.php?id=1716 (13.04.2005).
- http://www.topicos.net/fileadmin/pdf/2002/4/Wahlen_und_Stimmenkauf.pdf (13.04.2005).
- http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Brasilien/avelar.html (18.09.2005).
- http://www.usta.de/RefAk/Amnesty/brasilien.html (24.04.2005).
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