Kein Gefühl von Freiraum

Die Besetzung der Talstation der alten Hungerburgbahn liegt fast zwei Monate zurück. Welchen Zweck verfolgten die AktivistInnen, was sollte erreicht werden? Warum ein Haus besetzen? Die Antwort würde wohl in etwa so ausfallen: Es soll ein Freiraum geschaffen werden, weil es in Innsbruck keinen gibt. Es stehen Häuser leer, vegetieren unbenutzt vor sich hin. Da liege es auf der Hand, dass man sich den Raum nimmt und ihn gestaltet - unabhängig von gesellschaftlichen Normen.

Im folgenden sollen punktuell und kompakt ein paar kritische Gedanken für eine weitere Diskussion über "Freiräume" und linke Aktionen fruchtbar gemacht werden. Es geht nicht darum, die Besetzung schlecht zu reden oder der Gruppe Freiraum etwas zu unterstellen. Es geht viel mehr um die Verständigung: Theorie als der Moment von Praxis, worüber sich gesellschaftskritische AktivistInnen über sich und ihre Strategien unterhalten und sie reflektieren.

The definition of ...

Im Selbstverständnis der Gruppe Freiraum, die die Besetzung initiiert hat, wird "Freiraum" erklärt (alle Zitate zu finden auf www.catbull.com/freiraum):

"Freiraum bezeichnet einen Ort, der kritisches Denken distanziert von den gängigen gesellschaftlichen Ver- und Bewertungsmechanismen fördert. Er soll der eigenen Individualität freien Lauf lassen und Menschen die Möglichkeit bieten, sich mit sich selbst und Anderen auseinanderzusetzen." Das klingt oberflächlich betrachtet einladend und sympathisch. Aber wie kann man sich diesen Raum konkret vorstellen: Vier Wände, bei deren Betreten man seine ganze Sozialisation abzulegen beginnt? Das sexistische, rassistische, karrieristische, narzistische, durch Ideologien "geschädigte" Bewusstsein löst sich auf in ein "unabhängiges", "reines"? Die Gesellschaft ist böse, der Freiraum ist gut? Wie und woran misst man "Bewusstsein"? Man liest weiter:

"Wir wollen einen bunten, für jede/n zugänglichen Ort, möglichst frei von herrschenden Zwängen (z.B. Konsum, angepasstes Erscheinungsbild und Verhalten) schaffen und allen Menschen anbieten, selbst aktiv zu werden, um sich abseits der normierten Wege zu organisieren und zu verwirklichen."

"Möglichst frei" deutet es an: Man ist sich nicht so sicher, ob das "Freie" auch erreicht werden kann. Frei von Konsum(zwang) ist sehr relativ: Man veranstalte eine Band, die für Benzinkohle spielt. Wie kommt das Geld rein? Wohl oder übel nur durch Eintritte, die jedEr zu zahlen hat. Und wenn man im Freiraum, in dem dann vermutlich auch Barbetrieb stattfindet, für die Getränke nichts verlangt, wird das auf Dauer finanziell unmöglich. Sicher, man kann hier ansetzen - und wenn die Eintritte und Getränkepreise billiger ausfallen als in kommerziellen Lokalen oder die Entscheidungen nicht nach Profitinteressen getroffen werden (müssen), dann ist das unterstützenswert. Sich aber innerhalb des geforderten Raums frei von herrschenden Zwängen zu machen - und dazu gehören eben auch und hauptsächlich ökonomische wie Konsum - bleibt eine Illusion. Was ist Antikapitalismus? Und noch eine Frage: Was bedeutet angepasstes Erscheinungsbild und Verhalten? Wer bestimmt darüber, was angepasst ist und was nicht? Bis jetzt hat der Kapitalismus noch immer alles "Unangepasste" für sich produktiv verwerten können (Feminismus, Punk, antiautoritäre Strukturen, ...).

... problems and battlefields

Ein Aktivist hat nach der Besetzung gesagt: "Als draußen die Polizei stand, hab ich nicht das Gefühl gehabt, mich in einem Freiraum zu befinden." Damit wird ein großes Problem angesprochen. Individuelle Befreiung, hier im Sinne kleiner Gruppen, funktioniert nicht, weil es zu marginal bleibt - vor allem inhaltlich. Die Grundpfeiler des Systems, in dem Fall das Privateigentum an Häusern, Grund und Boden, werden zwar angegriffen, aber die Revolte bleibt isoliert, weil sie sich nur für sich selbst interessiert. Ein Fehler war beispielsweise, dass es praktisch keine Kommunikation nach außen abseits der bürgerlichen Medien gab. Es wurden keine NachbarInnen direkt angesprochen oder auf der Straße Flugis zur Besetzung verteilt - was etwas völlig anderes gewesen wäre als die Präsenz in der bürgerlichen Öffentlichkeit (die nur Skandale oder "friedlichen" Protest kennt).

Im Selbstverständnis der Gruppe Freiraum steht dann auch ganz klar: "Es [den Freiraum zu schaffen, Anm.] ist der Traum vom Menschen, unabhängig zu sein." Und: "Ein freier Raum würde die Möglichkeit bieten, aus diesen vorgegebenen Normen auszubrechen und sich in antiautoritärer und offener Art und Weise zu entwickeln."

Es stellt sich die Frage, welches Verständnis von Gesellschaft hinter solchen Sätzen steckt. Was ist Gesellschaft, was bedeutet Kapital(ismus) und welche Rolle spielen wir dabei? Vielleicht kommt man mal weiter, wenn man einsieht, dass es kein außerhalb der Gesellschaft gibt? Dass es keine Oasen gibt, die isoliert von der Gesellschaft existieren könnten, weil auch wir Teil der Gesellschaft sind - egal wie antiautoritär oder "rein" unser Bewusstsein ist. Eine Binsenweisheit, ja. Aber warum stellen wir uns dann sowas wie "Freiräume" vor, beschreiben das mit Adjektiven wie "unabhängig" und "frei von diesem und jenem"?

Der Mensch existiert nur im Zusammenhang mit den Menschen. Und Menschen können alleine nicht überleben, sie sind nicht frei von Gesellschaft, sie sind voneinander abhängig. Und das ist auch gut so, denn nur dadurch ergibt sich eine Perspektive der Befreiung: "Während ein Mensch nicht fähig ist, eine Tonnenlast zu heben, und 10 Menschen sich dabei anstrengen müssen, können es einhundert Menschen aber mit der Kraft nur je eines ihrer Finger tun."*

*Marx zitiert im Kapital auf S. 345 [MEW 23] den englischen Ökonomen John Bellers, weil er veranschaulichen will, dass durch die Kooperation von vielen Menschen die Produktivkraft der Gesellschaft und damit die Chance auf Befreiung von Mühsal und Plage steigt.
(Öltsch)