Oktoberrevolution

Rußland war jahrhundertelang autokratisch und repressiv regiert worden. Der größte Teil des Volkes lebte unter schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Seit dem 19. Jahrhundert waren unter Studenten, Intellektuellen, Arbeitern, Bauern und auch Adeligen immer wieder Bewegungen entstanden, deren Zielsetzungen im Einzelnen zwar recht unterschiedlich waren, die aber ausnahmslos alle auf den Sturz der autokratischen Zarenherrschaft abzielten. Zwei herausragende, wenn auch mehr oder weniger erfolglose Versuche in dieser Richtung waren der:
- Aufstand der Dekabristen von 1825 gegen Zar Nikolaus I. und die
- Revolution von 1905, die die Einführung einer konstitutionellen Monarchie zum Ziel hatte.

Zar Nikolaus II., ältester Sohn von Alexander III., bestieg den Thron 1894. Zwar hatte er gute Absichten, doch war er ein schwacher Regent, der sich leicht von anderen beeinflussen lies. Außerdem glaubte er fest an die autokratischen Prinzipien, die ihn sein Vater gelehrt hatte. Autokratie, Unterdrückung und Polizeiüberwachung nahmen unter Nikolaus zu. Die Antwort darauf war ein Aufwallen von Terrorakten. Revolutionsführer lenkten die sozialistische Bewegung vom Ausland aus, darunter besonders Wladimir I. Lenin. Außenpolitisch stand Rußlands Interesse an der Mandschurei dem des expandierenden japanischen Kaiserreiches gegenüber, und die daraus entstehenden Reibungen führten am 8. Februar 1904 zu einer japanischen Attacke. Da sie für die Führung des Krieges mit Japan die öffentliche Zustimmung brauchte, gestattete die Regierung einen Kongreß der Zemstvos in St. Petersburg im November 1904. Als die Forderungen dieses Kongresses nach Reformen von der Regierung nicht beachtet wurden, wurden sie von Sozialistengruppen angenommen. Arbeiterführer riefen zu einer Demonstration auf. Am 22. Februar 1905 marschierten Tausende unter Führung von Georgij Apollonowitsch Gapon, eines revolutionären Priesters, zum Winterpalais, um ihre Forderungen zu präsentieren. Sie wurden von Truppen des Kaisers beschossen; Hunderte wurden an diesem ,,Blutsonntag" getötet und verwundet. Dieses Massaker war das Signal für eine Revolution. Streiks und Aufstände begannen in allen industrialisierten Teilen Rußlands. Die rasche Folge der Ereignisse zusammen mit den anhaltenden schweren Niederlagen im Krieg bewegten die Regierung zu Zugeständnissen. Der Kaiser versprach eine Abgeordnetenversammlung oder Duma. Den Altgläubigen gewährte er per Dekret Religionsfreiheit (29. April) und den Polen größere Freiheit (16. Mai). Die Revolutionswelle lies sich jedoch nicht aufhalten. Soldaten und Seeleute meuterten, und am 14. Oktober wurde in Sankt Petersburg ein Sowjet (ein Rat aus Arbeiterabgeordneten) gebildet, der einen Generalstreik anführen sollte. Dieser Streik war begleitet von Aufständen nationalistischer Gruppen, Bauernunruhen und Aufruhr überall im Reich. Dazu kam die völlige Niederlage Rußlands im Krieg mit Japan. Die Regierung sandte Truppen gegen die Revolutionäre aus, und sie unterstützte die konservativen Gruppierungen, die gegen die radikalen Arbeitersowjets waren. Die Verhaftung des Sowjet in Sankt Petersburg im Dezember führte zu einem gewalttätigen Arbeiteraufstand in Moskau, der von Armee-Einheiten niedergeschlagen wurde. Anfang des Jahres 1906 hatte die Regierung wieder alles unter Kontrolle.

Die erste Duma sollte im Mai 1906 zusammenkommen. Vor dieser Versammlung verkündete die Regierung jedoch die Fundamentalgesetze, die dem Zaren autokratische Befugnisse vorbehielten. Als die Duma energische Reformen verlangte, wurde sie nach zwei Monaten aufgelöst. Eine zweite Duma versammelte sich 1907 und wurde ebenfalls aufgelöst. Die Revolutionsbewegung begann zu wachsen. Man begegnete ihr mit Repressionen, die sich besonders gegen Minderheiten richteten. In der Zwischenzeit fingen konservative und gemäßigte Reformbewegungen an, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Sie wurden der beherrschende Einfluß in der dritten Duma, die verschiedene gemäßigte Reformmaßnahmen verabschiedete. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914 beendete vorübergehend die revolutionäre Tätigkeit der Radikalen. Der Krieg wurde dadurch ausgelöst, daß Rußland seinen Beistand verweigerte, als Österreich in Serbien nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajevo am 28. Juni 1914 einmarschierte. Die vierte Duma tagte zu diesem Zeitpunkt und sie rief zur öffentlichen Unterstützung der Regierung auf. Bis zum Ende des Jahres 1914 hatte die russische Armee schwere Rückschläge erlitten, besonders in Ostpreussen. Die Rückschläge nahmen 1915 zu, und mit Ausnahme vorübergehender Siege nahm die Niederlage langsam das Ausmaß der Katastrophen aus dem Krimkrieg und dem Russisch-Japanischen Krieg an. Der Mangel an Nachschub und Transportmöglichkeiten und die Unfähigkeit militärischer Führer entmutigten die Truppen. Die Zahl der Deserteure stieg, und der Krieg wurde in ganz Rußland unpopulär. Darüber hinaus gingen Repression und Korruption in der Regierung weiter. Der Kaiser stand unter dem Einfluß seiner deutschstämmigen Frau Alexandra, der die Russen mißtrauten und die von Rasputin beherrscht wurde. Rasputin erlangte großen Einfluß auf das Reich, und er kontrollierte sogar militärische Entscheidungen. Sein Verhalten wurde abgelehnt, sodaß im Dezember 1916 eine Gruppe von Aristokraten, darunter auch Mitglieder der Kaiserfamilie, ihn ermordeten. Die revolutionäre Agitation nahm zu, und im Februar 1917 begannen in Moskau Aufstände. Als den Truppen befohlen wurde, auf die Aufständischen zu schießen, verbündeten sie sich statt dessen mit ihnen.

Februarrevolution 1917

Die unmittelbare Ursache der Februarrevolution von 1917 war der Niedergang des Zarenregimes unter der gewaltigen Belastung des 1. Weltkrieges sowie die Unfähigkeit bzw. Weigerung des Zaren Nikolaus II., längst überfällige politische, wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen. Die mittelbare Ursache war die im Vergleich zum Westen sehr rückständige Wirtschaft Rußlands, die es unmöglich machte, einen Krieg gegen das wirtschaftlich starke Deutschland durchzuhalten, geschweige denn zu gewinnen. Rußland hatte zwar praktisch unerschöpfliche Ressourcen an Arbeitskräften, in der Industrie fehlten aber ausreichende Kapazitäten für die Produktion von Waffen, Ausrüstung und Versorgungsgütern für die Millionen von Soldaten, die in den Krieg geschickt worden waren. Außerdem war das Schienennetz noch äußerst unzureichend, und schließlich ging auch die Agrarproduktion in Folge des Krieges stark zurück. In den Schützengräben hungerten die Soldaten und hatten oft weder Schuhe noch Munition, manchmal nicht einmal Waffen. Die Verluste der Russen waren so hoch wie nie zuvor in irgendeinem Krieg oder irgendeiner Armee. Hinter der Front wurden die Waren knapp, die Preise stiegen rapide an, und 1917 standen vor allem die großen Städte vor einer Hungersnot. Die Verbitterung der Zivilbevölkerung wuchs zusehends, und auch in der Armee litt die Moral unter der katastrophalen Versorgungslage und zusätzlich noch unter einer Reihe von militärischen Niederlagen. Vielfach schrieb man diese Rückschläge dem angeblichen Verrat der Zarin Alexandra und ihres Kreises zu, der unter dem Einfluß des Bauernmönches Grigorij Jefimowitsch Rasputin stand. Proteste der Duma, des russischen Parlaments, gegen die inkompetente Kriegsführung und die Willkürherrschaft der zaristischen Regierung fanden weder bei Zar Nikolaus II. noch bei den meisten seiner Minister Gehör. Anfang 1914 waren in Rußland wie fast überall in Europa alle Parteien außer einer kleinen Gruppe von Sozialdemokraten für den Krieg. Aber bereits ab 1915 kam es zu empfindlichen Engpässen in der Versorgung, die besonders die großen Städte zu spüren bekamen, die von Flüchtlingen aus dem Frontgebiet überschwemmt wurden. Die Protestbereitschaft der Zivilbevölkerung stieg, und immer häufiger kam es zu Streiks und Demonstrationen.

1915 schloß sich die Mehrheit der Duma zu einem interfraktionellen, progressiven Block zusammen und forderte angesichts der wachsenden Unzufriedenheit und der Versorgungslage politische Reformen. Der Zar lehnte ab und verschärfte seinen innenpolitischen Kurs noch. Im November 1916 machte die Duma Nikolaus II. nochmals darauf aufmerksam, daß es zu einer Katastrophe kommen werde, sofern er keine Reformen durchführe und sich nicht zu einer konstitutionellen Form der Regierung herbeiließe. Der Zar schlug wiederum alle Warnungen in den Wind. Ende Dezember ermordete eine Gruppe von Aristokraten Rasputin, in der Hoffnung, der Zar werde seinen politischen Kurs ändern; der Zar blieb hart, reagierte vielmehr mit der Begünstigung von Rasputins Anhängern am Hof. Einflußreiche Kreise faßten nun sogar eine Palastrevolution ins Auge, um so vielleicht doch noch einen Aufstand der breiten Masse abwenden zu können. Seit Jahresbeginn 1917 riß in der russischen Hauptstadt Petrograd (heute Sankt Petersburg) die Welle der Hungerdemonstrationen und Streiks nicht mehr ab. Am 3. März (dem 18. Februar nach dem julianischen Kalender) traten die Arbeiter des Putilow-Werkes in Petrograd, eines der größten Industriebetriebe in Rußland, in den Ausstand. Fünf Tage später, am 8. März, schlossen sich Zehntausende von Frauen der sich ausweitenden Protestbewegung an und demonstrierten gegen Hunger, Krieg und Zar, und am folgenden Tag kam es in Petrograd schließlich zum Generalstreik. Auf Transparenten und in Sprechchören forderten die Demonstranten und Streikenden die sofortige Beendigung sowohl des Krieges, als auch der autokratischen Zarenherrschaft. Auf Befehl des Zaren wurden schließlich zur Niederschlagung der Demonstrationen die gefürchteten Kosaken mobilisiert; die aber blieben neutral oder verbrüderten sich sogar offen mit den Aufständischen. Am 11. März erteilte Nikolaus II. den Truppen der Petrograder Garnison den Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Einige unbewaffnete Arbeiter fielen zunächst im Kugelhagel; trotzdem zogen sich die Demonstranten nicht zurück, bis schließlich Teile der zaristischen Truppen auf die Seite der Arbeiter wechselten und sich weigerten, weiter auf das Volk zu schießen. Die Revolution war nun nicht mehr aufzuhalten. Trotz der alarmierenden Berichte aus Petrograd sah sich Nikolaus, der sich außerhalb der Hauptstadt in seinem Hauptquartier aufhielt, noch immer nicht zu einer effektiveren Maßnahme veranlaßt, als die Duma aufzulösen. Die Abgeordneten nahmen das Auflösungsdekret zwar offiziell an, hielten aber, um sich nicht des Ungehorsams gegenüber dem Zaren schuldig zu machen, am 12. März eine als "privat" deklarierte Versammlung ab und setzten ein Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ein. Am 12. März setzte sich die Revolution in der Hauptstadt durch. Regiment um Regiment der Petrograder Garnison ging auf die Seite des Volkes über. Innerhalb von 24 Stunden hatte sich die gesamte Garnison bis auf einige hundert Soldaten den Aufständischen angeschlossen. Die Regierung erkannte ihre Machtlosigkeit und trat geschlossen zurück. Etwa gleichzeitig mit dem Provisorischen Komitee konstituierte sich auf Initiative der Menschewiki (siehe Bolschewismus) ein Provisorisches Exekutivkomitee des Arbeiterdeputiertenrates, und bereits am 13. März wurde in Petrograd ein Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) gewählt.

Petrograder Sowjet

Die Macht lag jetzt in den Händen zweier neuer Organe, des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und des Provisorischen Komitees der Duma, eines revolutionären und eines bürgerlichen Organs. Der Sowjet ernannte sofort eine Kommission, um das Problem der Lebensmittelversorgung der Hauptstadt zu lösen. Am 13. März lies das Provisorische Komitee die zaristische Regierung, die hohe Verwaltung und die Militärbefehlshaber verhaften. Am 14. März erließ der Sowjet den berühmten Befehl Nr. 1. Dieser Befehl wies die Soldaten und Matrosen an, sich in allen politischen Angelegenheiten dem Sowjet und seinen Ausschüssen unterzuordnen, nur die Befehle zu befolgen, die den Weisungen des Sowjets nicht widersprachen, und Ausschüsse zu wählen, die die ausschließliche Verfügungsgewalt über die Waffen hatten. Die Disziplin der Truppen sollte natürlich gewahrt werden; aber die bislang übliche harte und erniedrigende Behandlung der Mannschaften durch die Offiziere wurde verboten, die Pflicht der Soldaten, die Offiziere zu grüßen, wurde abgeschafft. Auseinandersetzungen zwischen Soldatenausschüssen und Offizieren sollten zur Beilegung an den Sowjet verwiesen werden. Der Befehl Nr. 1 sicherte den Sowjets zwar die Loyalität der Truppen, die Demokratisierung der Armee brachte aber auch stellenweise eine Auflösung der Disziplin mit sich. Daher wurde wenig später der Befehl Nr. 1 wieder eingeschränkt. Der Petrograder Sowjet hätte leicht die Macht, die ihm durch die Wahlen zum Sowjet im Grunde ja übertragen worden war, in der Hauptstadt übernehmen können; er tat dies aber nicht. Die Gründe hierfür sind nicht ganz klar; eine wichtige Rolle spielte sicherlich die Uneinigkeit in den eigenen Reihen sowie die Furcht vor der Verantwortung. Wie alle anderen politischen Gruppierungen waren auch die Parteien der Arbeiterklasse vom Ausbruch der Revolution überrascht worden und standen ihr ohne starke Führung und ohne klares Konzept gegenüber. Selbst die Bolschewiki, die bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Revolution in Rußland rechneten, waren von ihrem Beginn überrascht worden und in keiner Weise darauf vorbereitet, die Lage für sich zu nutzen. Erst als ihr Führer Wladimir Iljitsch Lenin am 16. April aus seinem Schweizer Exil nach Rußland zurückkehrte, formulierten die Bolschewiki ihr Programm: die sofortige Beendigung des Krieges, die sofortige Enteignung adeligen Grundbesitzes, die Kontrolle in den Fabriken durch die Arbeiter, und ,,alle Macht den Sowjets". Vorerst waren die Bolschewiki im Petrograder Sowjet aber noch eine unbedeutende Minderheit; die Mehrheit hatten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre. Im Gegensatz zu den Bolschewiki definierten die Menschewiki die Februarrevolution als bürgerliche Revolution, in deren Folge sich die kapitalistische Gesellschaft und ihre demokratische Verfassung erst voll entwickeln mußten, bevor, laut Karl Marx, die wesentliche Voraussetzung für eine sozialistische Revolution gegeben war. Vor allem aber waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre auch für die Fortsetzung des Krieges, damit sich Rußland nicht etwa einem Diktatfrieden unterwerfen mußte. Unter Führung der gemäßigten menschewistisch-sozialrevolutionären Mehrheit erklärte sich der Petrograder Sowjet dann auch zur Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung bereit, was von den Bolschewiki als Verrat an der Revolution strikt abgelehnt wurde.

Provisorische Regierung

Am 12. März 1917 verkündete das Provisorische Komitee der Duma, es übernehme die Verantwortung für die Wiederherstellung der Ordnung. Am 13. März übernahm es kommissarisch die Leitung der Ministerien. Das Provisorische Komitee bildete in Absprache mit dem Sowjet eine Provisorische Regierung und forderte die Abdankung des Zaren. Nikolaus verzichtete am 15. März für sich und seinen Sohn Alexander auf den Thron zugunsten seines Bruders, des Großfürsten Michail Alexandrowitsch, der nach Rücksprache mit der Regierung am 16. März ebenfalls auf den Thron verzichtete. Die Provisorische Regierung setzte sich, mit Ausnahme des Sozialrevolutionärs Aleksandr Fjodorowitsch Kerenskij, aus denselben liberalen Führern zusammen, die 1915 den progressiven Block in der Duma organisiert hatten. Der Ministerpräsident, Fürst Georgij Jewgenjewitsch Lwow, ein reicher Landbesitzer, war Mitglied der konstitutionell-demokratischen Kadettenpartei, die für eine konstitutionelle Monarchie und einen allmählichen Übergang zur Republik eintrat. Lwow war im Grunde nur eine Galionsfigur; die herausragende Persönlichkeit der Provisorischen Regierung war bis Anfang Mai Pawel Miljukow, Außenminister und Vorsitzender der Kadettenpartei seit ihrer Gründung 1905. Er formulierte maßgeblich die Politik der Regierung. Kerenskij, der Justizminister, früher in der Duma Führer der Trudowiki ("Arbeitervertreter"), war der einzige Vertreter eines gemäßigten Sozialismus in der Provisorischen Regierung. Nach ihrer Anerkennung durch den Petrograder Sowjet und das Oberkommando des Heeres und der Marine war die Provisorische Regierung anfangs sehr populär. Sie löste sogleich die zaristische Polizei auf, hob alle Beschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit auf und erließ eine Amnestie für politische Gefangene. Bis Anfang April hatten sich alle revolutionären Führer von Rang, die verhaftet, verbannt oder zur Emigration gezwungen worden waren, in der Hauptstadt eingefunden. Dem Vertretungsanspruch der Provisorischen Regierung fehlte allerdings die Basis, da die Duma, aus der sie hervorgegangen war, keine demokratisch gewählte Vertretung der Massen war. Das Dilemma der Provisorischen Regierung faßte ihr Kriegsminister Aleksandr Gutschkow so zusammen: "Die Regierung hat leider keine echte Macht. Das Militär, die Eisenbahnen, das Post- und Telegraphenwesen sind in der Hand des Sowjets. Tatsache ist einfach, daß die Provisorische Regierung nur so lange besteht, wie es der Sowjet zuläßt."

In Bezug auf die wesentlichen sozialen Problemen erklärte die Provisorische Regierung, daß sie, eben weil sie ein Provisorium sei, grundsätzlich keine einschneidenden Veränderungen wie die Enteignung des adeligen Grundbesitzes zugunsten der Bauern durchführen könne. Alle grundlegenden Reformen mußten bis zur Entscheidung durch eine konstituierende Versammlung verschoben werden, aber die Wahlvorbereitungen zogen sich in die Länge, der Wahltermin wurde immer wieder verschoben. Denn für die liberale Mehrheit in der Provisorischen Regierung stand zu befürchten, daß nicht sie, sondern die verschiedenen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien die Mehrheit in der konstituierenden Versammlung erhalten würden. Die einzige Chance der Provisorischen Regierung zum Machterhalt bestand in einem Sieg an der Seite der Alliierten im 1. Weltkrieg. Die größten Differenzen zwischen der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet gab es in der Frage der Kriegsziele. Die Provisorische Regierung verpflichtete sich zur Fortsetzung des Krieges bis zum Sieg und zur Einhaltung der "unbedingten Bündnisverpflichtungen gegenüber unseren Alliierten". Zu diesen noch von der zaristischen Regierung eingegangenen Verpflichtungen gehörten auch Geheimverträge über russische Annexionen am Bosporus. Der Petrograder Sowjet wies diese imperialistischen Kriegsziele, an denen die Provisorische Regierung weiter festhielt, scharf zurück und rief die ,,Völker der Welt" durch einen von Maksim Gorkij verfaßten Appell auf, ihre Regierungen zu Friedensverhandlungen zu zwingen. Trotz der Differenzen und trotz der Kriegsmüdigkeit der großen Mehrheit der Bevölkerung, die damals wohl nicht einmal dem Sowjet in seinem ganzen Ausmaß bewußt war, einigten sich Sowjet und Provisorische Regierung auf einen Kompromiß zur Fortführung des Krieges: Die Annexionspläne wurden fallen gelassen. Grundsätzlich aber wurde der Konflikt über Kriegsziele und -führung nie gelöst, solange die Provisorische Regierung bestand. Die Gräben zwischen der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet wurden immer tiefer. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war der Wandel des Sowjets von einer Institution, die auf eine parlamentarische Demokratie hinarbeitete, zu einem Instrument des revolutionären Sozialismus. Dieser Wandel hatte zwei Hauptursachen: Erstens die zögerliche Politik der Regierung, die die Lösung dringender Probleme einer künftigen konstituierenden Versammlung überlassen wollte und daher nichts gegen die miserable wirtschaftliche Situation und die anhaltend katastrophale Versorgungslage unternahm, die Agrarreform aufschob und das Erstarken der konterrevolutionären Kräfte zuließ. Statt dessen konzentrierte sich die Regierung vor allem auf die Fortführung des Krieges. Die zweite Ursache war eine logische Folge der ersten: Die Arbeiter und Bauern kamen zu der Überzeugung, daß ihre Probleme nicht von der Regierung, sondern nur von den Sowjets gelöst werden könnten. Diese Überzeugung war nach Lenins Rückkehr nach Petrograd von den Bolschewiki entscheidend mitgeprägt und dann für deren eigene Zwecke genutzt worden. Vor Lenins Rückkehr aus dem Exil am 16. April 1917 war die bolschewistische Politik von Männern wie Lew Borissowitsch Kamenew und Jossif Wissarionowitsch Stalin formuliert worden; sie waren für eine bedingte Unterstützung der Provisorischen Regierung und für die Bildung eines Blockes mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären.

Gleich nach seiner Rückkehr nach Petrograd legte Lenin seine später so genannten Aprilthesen vor:
- die Übernahme der Macht durch die Sowjets
- sofortige Beendigung des Krieges nach dem Sturz des Kapitals
- keinerlei Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung
- Enteignung des adeligen Grundbesitzes

Lenin erkannte aber auch, daß die Bolschewiki als vorläufig noch kleine Minderheit diese Ziele nicht durch eine sofortige Machtübernahme würden verwirklichen können, sondern indem sie durch geduldige Propaganda und Aufklärung die Mehrheit der Arbeiter von ihrer Politik überzeugten und so die Sowjets eroberten. Zunächst war beinahe die komplette Führung der Bolschewiki gegen diese Politik, aber nach und nach brachte Lenin die gesamte Partei hinter sich. Seine Aprilthesen bestimmten ab jetzt die bolschewistische Politik, die verkürzt in den Parolen
- ,,Friede, Land, Brot" und
- ,,Alle Macht den Sowjets"
ihren Ausdruck fand. Mitte Mai kehrte auch Lew Dawidowitsch Trotzkij aus dem amerikanischen Exil zurück und schloß sich nach kurzem Zögern Lenin und den Bolschewiki an. Die Umstände arbeiteten für die Sache der Bolschewiki. Am 1. Mai übersandte Miljukow den Alliierten eine Note, in der er nicht nur Rußlands Bündnistreue gegenüber den Alliierten beschwor; in einer mehrdeutigen Formulierung mahnte er außerdem "Garantien" an, worunter wohl nichts anderes zu verstehen war als die alten Annexionspläne am Bosporus. Diese Erklärung stand im krassen Gegensatz zu der Erklärung an die "Völker der Welt" des Petrograder Sowjets vom 27. März, die zu einem Frieden ohne jegliche Annexionen und Reparationen aufgerufen hatte. Die Folge waren Protestdemonstrationen bewaffneter Arbeiter und Soldaten, die den Rücktritt der Regierung forderten. Der neue Kommandeur von Petrograd, Lawr Georgijewitsch Kornilow, stand mit seinen Truppen bereit, die Demonstrationen gewaltsam zu unterdrücken; aber eine öffentliche Richtigstellung der Note, die die Regierung auf Druck des Sowjets und gemeinsam mit dem Sowjet formuliert hatte, beruhigte die Massen wieder. Miljukow und Gutschkow zogen dennoch die Konsequenz aus der Krise und traten zurück. Bei der Regierungsumbildung am 18. Mai wurden nun auch Vertreter der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre in die Regierung aufgenommen; sie erhielten insgesamt sechs der 15 Ministerien, Kerenskij wurde Kriegsminister. Die Krise bescherte den Bolschewiki einen beträchtlichen Zulauf. Ihre Delegierten waren aber beim Ersten Allrussischen Kongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der am 16. Juni in Petrograd zusammentrat, immer noch in der Minderheit gegenüber der soliden Mehrheit aus Menschewiki und Sozialrevolutionären. Die neue Koalitionsregierung hatte unterdessen, während sich die wirtschaftliche und soziale Krise zunehmend verschärfte, ihre Arbeit aufgenommen. Die konservativen Kräfte verlangten von der Regierung ein härteres Durchgreifen im Inneren und die Beendigung der Revolution. Die Arbeiter reagierten mit Streiks und der Aufforderung an die Regierung, Maßnahmen zur Beilegung der Krise zu treffen. Für die neue Regierung hatte jedoch genau wie für ihre Vorgängerin die Fortführung des Krieges Vorrang vor allen anderen Problemen. Am 29. Juni befahl Kerenskij eine Offensive gegen die Mittelmächte, die so genannte Brussilow-Offensive, die in einem Mißerfolg und praktisch der Auflösung der Armee endete: Die Disziplin in der Armee brach völlig zusammen, und Hunderttausende Soldaten strömten von der Front nach Hause. Mit dem Befehl zur Offensive hatten die Regierung und die sie unterstützende Mehrheit des Sowjets ihren Kredit bei der Armee weitgehend verspielt und die Soldaten förmlich in die Arme der Bolschewiki getrieben. Während der verhängnisvollen Brussilow-Offensive organisierte der Sowjet eine riesige Arbeiterdemonstration in Petrograd, gleichsam als kontrolliertes Ventil für die Unzufriedenheit der Arbeiter. Überrascht und entsetzt mußte der Sowjet dann aber feststellen, daß auf der Demonstration bolschewistische Parolen wie "Nieder mit der Offensive" und wieder "Alle Macht den Sowjets" dominierten. Am 16. Juli rief ein Petrograder Regiment, möglicherweise unter dem Einfluß der Bolschewiki, zu einer bewaffneten Demonstration gegen die Regierung auf. Zehntausende strömten schließlich am 17. Juli am Taurischen Palais, dem Sitz des Sowjets, zusammen und forderten den Petrograder Sowjet und den Allrussischen Sowjetkongress auf, endlich die Macht zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern übernahmen die Bolschewiki die Führung in dem Aufstand. Kerenskij gab Befehl an die Petrograder Garnison und von der Front abgezogene Truppen, den Aufstand wenn nötig mit Gewalt niederzuschlagen. Die Bolschewiki fügten sich widerstandslos in ihre Niederlage und beendeten die Demonstrationen. Die Regierung machte die Bolschewiki und vor allem Lenin für den Aufstand verantwortlich und sah in dem Aufstand einen Putschversuch Lenins, einen Versuch Lenins also, über einen bewaffneten Aufstand die Forderung "Alle Macht den Räten" selbst in die Tat umzusetzen. Die Bolschewiki und ihre Publikationen wurden verboten, ihre Führer, u. a. Trotzkij, verhaftet; Lenin konnte nach Finnland fliehen.

Regierung Kerenskij

Während des Juliputsches und zunächst unabhängig davon zerbrach die Koalitionsregierung. Bereits am 15. Juli waren über der Frage nach der Unabhängigkeit der Ukraine die kadettischen Minister zurückgetreten, und Miljukow schlug als geeignetes Mittel gegen die stetig wachsende Unruhe und Unzufriedenheit härtere Maßnahmen gegen linke Gruppen vor. Andererseits hatte der Juliputsch die Nöte der Bevölkerung nochmals deutlich ins Bewußtsein gebracht und die Regierung zum Handeln gezwungen. Die menschewistisch-sozialrevolutionäre Restregierung sagte u. a. Agrarreformen zu; der Ministerpräsident Fürst Lwow war allerdings nicht bereit, so weit gehende Reformen mitzutragen, und trat zurück; neuer Ministerpräsident wurde am 21. Juli Kerenskij. Am 10. August wurde eine neue, zweite Koalitionsregierung gebildet, in der nur noch vier Kadetten vertreten waren, ansonsten ausschließlich Menschewiki und Sozialrevolutionäre. An der Politik änderte sich wenig: Der Krieg sollte fortgeführt werden; soziale Reformen sollten einer konstituierenden Versammlung vorbehalten bleiben. Da die Regierung Kerenskij keine wirksamen Schritte zur Überwindung der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage unternahm, wuchs die Streikwelle weiter an und mit ihr die Gewaltbereitschaft. Die Bolschewiki gewannen erneut an Einfluß. Angesichts der explosiven Situation in Petrograd ersuchte Kerenskij den neuen Oberbefehlshaber des Heeres, Lawr G. Kornilow, loyale, regierungstreue Truppen in die Hauptstadt zu entsenden. Als sich dann jedoch andeutete, daß Kornilow, gestützt auf seine Truppen, selbst die Macht übernehmen wollte, wandte sich Kerenskij um Hilfe gegen die Konterrevolution an den Petrograder Sowjet. Während Kornilows Truppen auf die Hauptstadt vorrückten, bereiteten die Arbeiter- und Soldatenmilizen die Verteidigung vor. Die Eisenbahnergewerkschaft weigerte sich, Kornilows Truppen zu transportieren, die Telegraphenämter gaben seine Befehle nicht weiter. Kornilows Armee hatte sich aufgelöst, noch bevor sie die Hauptstadt erreichte; die Mannschaften waren von Petrograder Arbeitern und Soldaten zum Überlaufen überredet worden. Kornilow selbst wurde am 14. September verhaftet. In Petrograd selbst hatte der drohende Putschversuch Kornilows zwei zukunftsweisende Ergebnisse zur Folge:

- Die Arbeiterschaft war nun fester organisiert und zudem bewaffnet.
- Die Bolschewiki bekamen zum ersten Mal eine Mehrheit im Petrograder Sowjet.

Trotzkij, aus dem Gefängnis entlassen, wurde Präsident des Sowjets. Kornilows Putschversuch hatte das Vertrauen in die Provisorische Regierung noch weiter untergraben. Konsequenterweise traten die Minister zurück; die Regierung übernahm vorübergehend ein fünfköpfiges "Direktorium" unter Kerenskij, bis am 8. Oktober eine neue Regierung gebildet wurde, ebenfalls unter Kerenskij. Am 22. Oktober gab Kerenskij den Befehl, die Petrograder Garnison an die Front zu verlegen, sicherlich mit dem Hintergedanken, dieses revolutionäre Potential aus dem Mittelpunkt des Geschehens zu entfernen; aber die Garnison widersetzte sich. Um die Garnison zu beruhigen und das Vertrauen der Truppen zu erwerben, erklärte sich die Regierung bereit, im Sowjet ein Organ zur Kontrolle aller militärischen Unternehmungen und Entscheidungen einzurichten. Am 29. Oktober entstand das Revolutionäre Militärkomitee, in dem die Bolschewiki unter Trotzkij dominierten und das Trotzkij zu einem weitgehend selbständigen Komitee zur "revolutionären Verteidigung" der Hauptstadt umfunktionierte. Bereits wenige Tage später verpflichtete das Komitee die militärischen Befehlshaber, nur seinen Anordnungen zu folgen - eine wesentliche Voraussetzung für den Sturz der Regierung.

Oktoberrevolution 1917

Bereits seit Ende September beschwor Lenin aus seinem finnischen Versteck und dann aus dem Petrograder Untergrund, unterstützt von Trotzkij in Petrograd, die Notwendigkeit des Aufstands und des Sturzes der Regierung. Denn ihm war klar, daß bei allgemeinen Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung die Bolschewiki keine Mehrheit erringen würden. Die Partei widersetzte sich zunächst Lenins Politik, beschloß am 23. Oktober in einer Geheimsitzung aber schließlich doch die Übernahme der Macht durch einen bewaffneten Aufstand. Bereits Anfang Oktober war auf Initiative Trotzkijs für den 2. November ein Allrussischer Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte nach Petrograd einberufen, dann auf den 7. November verschoben worden. Es war keineswegs sicher, daß der Kongreß, in dem die Bolschewiki keine Mehrheit hatten, der Forderung der Bolschewiki nach Übernahme der Regierungsgewalt durch die Räte folgen würde, geschweige denn, daß die Bolschewiki über den Kongreß selbst an die Macht kämen. Am 6. November (dem 24. Oktober nach dem julianischen Kalender) gab Trotzkij das Signal zum Aufstand; der letzte Auslöser war die Besetzung der Redaktionsräume der Prawda, des Organs der Bolschewiki, durch die Polizei. Die Führung des Aufstands übernahm Trotzkij. Die Rotgardisten besetzten innerhalb kurzer Zeit die strategisch wichtigsten Positionen in der Hauptstadt, und schon am Nachmittag des 7. November verkündete Trotzkij das Ende der Provisorischen Regierung. Am Abend des 7. November, als der Aufstand noch in vollem Gange war, begann der Allrussische Sowjetkongress mit seinen Beratungen. Von seinen 670 Delegierten waren 300 Bolschewiki. Die Eröffnungssitzung war Schauplatz einer stürmischen Debatte: Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre warfen den Bolschewiki vor, eine Verschwörung gegen den Kongreß angezettelt und einen Anschlag gegen die Revolution unternommen zu haben; sie forderten die Bolschewiki auf, die Macht mit ihnen zu teilen und eine Koalitionsregierung zu bilden. Als die Bolschewiki dies ablehnten, verließen die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre den Kongreß. Der Kongreß, immerhin ein demokratisch gewähltes Organ, bestand jetzt praktisch nur noch aus Bolschewiki, die Macht lag nahezu ausschließlich bei den Bolschewiki. Nur der linke Flügel der Sozialrevolutionäre beteiligte sich weiterhin an dem Kongreß und bildete eine kurzlebige Koalitionsregierung mit den Bolschewiki. Während der Kongreß noch tagte, stürmten bewaffnete Arbeiter, Soldaten und Matrosen in der Nacht vom 7. auf den 8. November den Winterpalais, den Sitz der Provisorischen Regierung. Die Minister wurden verhaftet; Kerenskij war bereits aus Petrograd geflohen.

Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung

Am frühen Morgen des 8. November bildete der Kongreß bis zum Zusammentreten einer konstituierenden Versammlung eine provisorische Arbeiter- und Bauernregierung, den ,,Rat der Volkskommissare". Bei seinem ersten Auftritt vor dem Sowjetkongress setzte Lenin mit seiner Eröffnungserklärung den Tenor für die weiteren Beratungen: ,,Wir gehen jetzt zum Aufbau der sozialistischen Ordnung über." Der Kongreß griff dann die drei dringlichsten Themen - Frieden, Grund und Boden sowie Bildung einer neuen Regierung - auf. In dem neuen Regierungssystem sollte der Sowjetkongress vorläufig die Rolle einer gesetzgebenden Versammlung übernehmen. Die Ausführung der Beschlüsse des Kongresses wurde dem Rat der Volkskommissare übertragen, der dem Sowjetkongress und dessen Zentralem Exekutivkomitee verantwortlich war. Die Volkskommissare entsprachen Ministern und standen jeweils einem Kommissariat (Kommission) vor. Lenin wurde zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, also zum Regierungschef, gewählt. Trotzkij wurde Volkskommissar für Äußeres und Stalin Volkskommissar für Nationalitätenfragen. Nach der Einsetzung der neuen Regierung vertagte sich der Sowjetkongreß. Als erstes Dekret verabschiedete der Kongreß einstimmig ein Manifest, das allen Krieg führenden Staaten den sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen anbot. Außerdem schlug es einen sofortigen Waffenstillstand für die Dauer von mindestens drei Monaten vor. Der gesamte Grundbesitz der Gutsherren, der Zarenfamilie, der Klöster und Kirchen wurde Staatseigentum und in die Verfügung von örtlichen Grund- und Bodenkomitees und Bauernsowjets überstellt. Das Land der Kleinbauern und der einfachen Kosaken war jedoch ausdrücklich von der Beschlagnahmung ausgenommen. Die Beschäftigung von Lohnarbeitern auf dem Land war verboten, das Land sollte dem "gehören", der es mit eigener Hände Arbeit bestellte. Der Sowjetkongreß legte den Grundsatz der gleichberechtigten Nutzung des Grund und Bodens fest, d. h. das Land sollte je nach den lokalen Gegebenheiten unter den Landarbeitern aufgeteilt werden, wobei entweder die Arbeit oder der Verbrauch als Bemessungsgrundlage dienen sollte. Die Beschlüsse des Sowjetkongresses zur Friedens- und Agrarpolitik verschafften der neuen Regierung große Zustimmung und gaben den Ausschlag für den Sieg der Bolschewiki in den anderen Städten und in den Provinzen. Am 15. November verkündete der Rat der Volkskommissare außerdem das Recht auf nationale Selbstbestimmung und Gleichberechtigung: Nationalitäten, die sich das Zarenreich gewaltsam angegliedert hatte, sollten sich von Rußland trennen dürfen. Gleichzeitig machte der Rat jedoch deutlich, daß er mit einer Entscheidung der Arbeitermassen dieser Nationalitäten für den Verbleib bei Rußland rechnete. Des Weiteren verstaatlichte der Rat alle Banken und sukzessive auch die Industriebetriebe und überstellte die Produktionsmittel der Verfügungsgewalt der Arbeiter.

Machtsicherung

Am 8. Dezember 1917 wurde die verfassunggebende Versammlung gewählt, in der die Bolschewiki, wie Lenin richtig vorhergesehen hatte, mit etwa einem Viertel der Sitze nur eine Minderheit bildeten; die Mehrheit hatten die Sozialrevolutionäre. Im Januar 1918 lösten die Bolschewiki die Versammlung bei ihrem ersten Zusammentreten gewaltsam auf. In der Folge wurden alle nichtbolschewistischen Kräfte systematisch durch den "Roten Terror", wie Lenin selbst diese Aktionen bezeichnete, ausgeschaltet. Bürgerliche Parteien wurden verboten, Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre aus allen Sowjets verdrängt und linke Sozialrevolutionäre, die zunächst an der Macht beteiligt waren, vom politischen Leben ausgeschlossen. Allein dominierende politische Kraft wurde die ,,Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewiki)", Abkürzung KPR(B), wie sich die Bolschewiki seit Anfang 1918 bezeichneten. Im März 1918 übersiedelte die Regierung in den Moskauer Kreml, und am 10. Juli 1918 verabschiedete der 3. Allrussische Sowjetkongreß die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Damit war die erste Phase der Revolution abgeschlossen.

Bürgerkrieg

Entsprechend ihrem ersten Dekret vom 8. November 1917 schloß die bolschewistische Regierung noch im Dezember 1917 einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten und am 3. März 1918 den Frieden von Brest-Litowsk, in dem Sowjetrussland die Unabhängigkeit Finnlands, Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine anerkannte. Diese Gebietsverluste sowie umgekehrt die Furcht in den nun unabhängigen Staaten vor dem Verlust ihrer Souveränität nach der Aufhebung des Friedensvertrages Ende 1918, vor allem aber die Repressionen der Regierung sowie insbesondere der eigene Machtverlust schürten die Opposition von Monarchisten, bürgerlichen Demokraten, Nationalisten, Menschewiki und Sozialrevolutionären gegen die Bolschewiki und führten schließlich zum Bürgerkrieg, der bis 1920/1922 andauerte. Am Ende siegten die Bolschewiki mit ihrer Roten Armee gegen die von den Entente-Mächten unterstützten antibolschewistischen "Weissen". Am 30. Dezember 1922 konstituierte sich aus der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, der Ukrainischen, der Weissrussischen und der Transkaukasischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).
(Tschonggy)