Die große Familie
Text aus ECHO

In den siebziger Jahren war die Innsbrucker MK das größte Jugendzentrum Europas. Aufgebaut hatte es Pater Sigmund Kripp, der aber wegen seiner offenen Arbeit in einen heftigen Kirchenstreit verwickelt wurde.

Am 19. Jänner fand in Innsbruck wohl eines der größten Familientreffen der letzten Jahre statt. Rund tausend Menschen kamen in die Stadtsäle, feierten, erinnerten sich an die gemeinsame Vergangenheit und bedachten den eigens aus Nicaragua angereisten Ehrengast mit tosendem Applaus. Der erste MK-Revival-Ball war ein Riesenerfolg, Sigmund Kripp, der “Vater“ der MK, der umjubelte Star des Abends.

Die Innsbrucker MK, die Marianische Kongregation am Jesuitenkolleg, war in den siebziger Jahren das größte Jugendzentrum Europas. Zu Spitzenzeiten zählte es an die 1500 Mitglieder, Kinder und Jugendliche aus der Tiroler Landeshauptstadt und der nächsten Umgebung. Aufgebaut hat es der Jesuitenpater Sigmund Kripp, der die MK 1959 als 29-Jähriger übernommen hatte, und mit dem John F. Kennedy-Haus jungen Menschen eine zweite Heimat, eine zweite Familie gab. Und der mit seinen für die damalige Zeit unkonventionellen, ja “ketzerischen“ Methoden in den Konflikt mit der Amtskirche geriet und im Mittelpunkt eines der größten Kirchenskandale in der Geschichte Tirols stand.

Aufbau. “Zum Traumjob berufen“ übertitelt Sigmund Kripp in seinen Erinnerungen “Als Jesuit gescheitert“ seine Ernennung zum MK-Leiter. Kripp übernahm von seinem Vorgänger eine rund 260-köpfige Jugendgruppe und stürzte sich voller Elan in seine Arbeit. Im Laufe der Zeit erkannte er, dass die tradierte Form der Gruppentreffen – Gebet, Lied, religiöses Leitwort und Spielteil – nicht mehr zeitgemäß ist, dass sich mit der Gesellschaft auch die Jugendarbeit ändern muss. Weg von der elitär-katholischen Jugendgruppe, hin zum offenen Jugendzentrum, das Platz bietet zum Diskutieren, zur Freizeitgestaltung, zur Selbst-Entwicklung. Neben der für die 10- bis 14-Jährigen wöchentlichen, verpflichtenden Gruppenstunde, die ältere

MK-lern – die Gruppenführer – leiten, werden Interessensgruppen, die Sektionen, gebildet. 1970 sind es an die 60, von Theater, Film und Foto bis zu Maschinschreiben, Automechanik und Motorrad reicht die Palette. Bis zu 400 Jugendliche frequentieren in dieser Zeit das Kennedy-Haus pro Tag.

Doch trotz aller Offenheit bleibt die freitägige Frühmesse um sieben Uhr Pflicht für die Mitglieder. Allerdings keine lästige. Viele Schüler – so erzählen sie heute – kommen wegen der “Hetz“ und weniger wegen des Gottesdienstes, der von Gruppenführern und Kindern mitgestaltet wird. Bis zu 600 Jugendliche treffen sich dazu wöchentlich am MK-Gelände, werden mit eigens organisierten Kleinbussen zur Messe und danach in die Schule gebracht. Und Schule heißt Gymnasium. Die MK ist ein Jugendzentrum für Mittelschüler.

1964, die Mitgliederzahl der MK ist inzwischen auf rund 400 angewachsen, wird das eigene MK- Gebäude, das John F. Kennedy- Haus eröffnet. Mitten im Stadtzentrum in der Sillgasse. Platz für die Gruppen- und Sektionstreffen, ein Ort der Kommunikation. Im Keller das CIK, der “Club im Kennedyhaus“, das Raum für Konzerte und Partys bietet. Später kommt noch die Bar HIK – “Hochschüler im Kennedyhaus“ – dazu. Im Sommer wird das Kennedy-Haus als Jugendherberge geführt. Beim Bau des Zentrums, das vom Innsbrucker Architekten Josef Lackner geplant wurde, arbeiten die Jugendlichen selbst mit. Insgesamt 9000 Arbeitsstunden. Betreut wird das Haus von den MK- lern selbst: Journal-, Bibliotheks- und Bardienst fällt auch unter die Sektionsarbeit.

Schon vier Jahre zuvor hatten die MK-ler mitgeholfen, die Mittergrathütte im Kühtai zu bauen. Ende der sechziger Jahre entsteht auf gleiche Weise das Bungalow-Dorf Terlago im Trentino, Anfang der siebziger wird das Schloss Wolfsthurn bei Bozen gemeinsam renoviert. In den Außenstellen der MK werden Sommer- und Lernlager abgehalten, die Lehrer sind Schüler der Oberstufe und Studenten. Ältere MK-ler fahren mit einem Gruppenführer im MK-Bus auf Urlaub – oft die ersten Ferien ohne Eltern.

Konflikt. Die Arbeit von Sigmund Kripp und seinen Mitarbeitern findet aber nicht nur Freunde. Vor allem die MK- Zeitung “Wir diskutieren“ stößt – trotz ständiger kirchlicher Zensur – von Anfang an auf Kritik in politischen und kirchlichen Kreisen. Nicht genehme Beiträge zu den Themen Bundesheer, Schützenwesen und Religionsunterricht lassen die Wogen hoch gehen. Die Politik droht mit Subventionskürzungen, Bischof Paulus Rusch mit der Absetzung Kripps.

Ab 1970 spitzt sich der Konflikt zwischen Rusch und Kripp immer mehr zu. In der Predigt zum Jahreswechsel 1971/72 warnt der Innsbruck Bischof die Eltern davor, ihre Kinder in die MK gehen zu lassen. Später begründet er seine Warnung in einem Brief unter anderem damit: “Der große politische Zusammenhang ist dieser: Es ist erwiesen, dass vom Osten sehr viel Geld eingeschleust wird, um den Westen zu erweichen. Es ist erwiesen, dass chinesische Führer ausdrücklich gesagt haben, der Westen müsse entmoralisiert werden, dann werde er von selbst erliegen. Es ist ebenso erwiesen, dass die einst freie Universität Berlin diesen Einflüssen schon weitgehend erlegen ist. Wenn die Dinge aber so sind, dann hat eine kirchliche Jugenderziehung heute die Aufgabe, echte Soldaten des Geistes heranzubilden, die an Selbstüberwindung und Opfer gewöhnt sind und Selbstüberwindung und Opfer auch nach innen hin zu leisten bereit sind.“ Auch stört den Bischof die offene Art, wie in den Gruppenstunden der MK über Sexualität und Aufklärung gesprochen wird.

Absetzung. Endgültig eskaliert der Konflikt im Herbst 1973 nach dem Erscheinen von Kripps Buch “Abschied von morgen“, in dem er die Arbeit im Jugendzentrum beschreibt und sein Pädagogikverständnis erklärt. Obwohl das Buch von Kripps Orden die Druck- Erlaubnis erhalten hat und der Theologe Karl Rahner sich in einem über dreißig Seiten langen Nachwort kritisch mit den Thesen Kripps auseinandersetzt, wird von Bischof Rusch die Absetzung des MK- Leiters verlangt. Er sieht in dem Buch “eine Verführung zum Unglauben“ und “eine moralische Substanzaufweichung“. Der kircheninterne Streit wird auch außerhalb Tirols wahrgenommen. Rusch fährt nach Rom, wo sich schon die Glaubens-, die Religiösen- und die Erziehungskongregation mit der Causa Kripp befassen. Rusch erhält von Papst Paul VI. den Auftrag, “die Sache Kennedy- Haus unverzüglich in Ordnung zu bringen“. Doch auch der Jesuitenorden geht auf Distanz zu seinem Mitglied Sigmund Kripp.

Im November 1973 ist es soweit: Der MK- Leiter wird abgesetzt. Die zahlreichen Solidaritätsaktionen helfen nichts. Auch die 6000 Unterschriften, die auf Initiative des Tiroler Künstlers Paul Flora gesammelt und in der Tiroler Tageszeitung als Protestresolution veröffentlicht werden, ändern nichts. Die Amtskirche hatte ihren Willen durchgesetzt.

Die Abschiedsveranstaltung wird zur riesigen Solidaritätskundgebung. Tausende Jugendliche, Eltern und Freunde füllen das Innsbrucker Kongresshaus, Hunderte verfolgen die Podiumsdiskussion über einen Monitor im Foyer. Am Schluss erhält Kripp einen zwanzig Minuten lang andauernden stehenden Applaus.

Nach seiner Innsbrucker Zeit geht Kripp ins bayrische Fellbach und baut dort ein Jugendzentrum auf. Doch auch in Deutschland sorgt der gebürtige Absamer mit seinen kirchen- und ordenskritischen Publikationen für Unruhe. 1984, nach Ankündigung, seinen Erfahrungsbericht über Jugendarbeit “Hören, was die Jungen sagen“ auch ohne Genehmigung des Ordens zu veröffentlichen, wird er aus dem Jesuitenorden ausgeschlosssen. 1985 geht Kripp als politischer Berater des Sozialministeriums nach Nicaragua, heute widmet er sich einem alternativen Tourismusentwicklungsprojekt an der nicaraguanischen Küste.

Nach Kripp. Bischof Rusch und die Tiroler Amtskirche mochten 1973 zwar den Kampf gegen Sigmund Kripp gewonnen haben, nicht aber den gegen die inhaltliche Ausrichtung der MK. Im Gegenteil. Auf Initiative der MK-ler wird das John F. Kennedy- Haus in Sigmund-Kripp-Haus umbenannt. Gegen den Willen des Jesuitenordens, der Kripp auffordert, seine Zusage zurückzuziehen.

Auch die inhaltliche Arbeit wird von Kripps Nachfolgern weitergeführt, die Entwicklung und gesellschaftliche Öffnung ist nicht mehr aufzuhalten und prägt Tirol. Anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats an Sigmund Kripp durch die Universität Klagenfurt im Jahr 1998 erklärte der Klagenfurter Pädagogikprofessor Dietmar Larcher die Bedeutung Kripps: “Für die damalige Zeit, die sechziger und die frühen siebziger Jahre, bot das soziale Klima im Kennedy- Haus eine kulturelle Gegenwelt zur stocksteifen und streng autoritären Trachten- und Blasmusikkapellenkultur, die im Land herrschte. Kein Wunder, dass nahezu alle kritischen Intellektuellen Tirols, die heute das Liberale, das Fortschrittliche und das Alternative repräsentieren, zu Kripps Zeiten Mitglieder der Marianischen Kongregation waren.“ Zu ergänzen wäre, dass dies auch für seine Nachfolger gilt. In den siebziger Jahren zuerst von Pater Josef Aigner, dann von Pater Johannes König und in den Achtzigern von Pater Richard “Ricci“ Plaickner. Die MK-ler dieser Zeit bilden eine große Familie, sind in allen Berufsgruppen zu finden. Ärzte, Juristen, Schauspieler, Architekten, Künstler, Journalisten und Politiker. Freundschaften, die seit Jahrzehnten bestehen.

In den Neunzigern wurde es ruhiger um die MK. Das Angebot für Kinder und Jugendliche in Innsbruck war breiter geworden. Unter MK- Leiter Martin Rauch zog die MK aus dem ehemaligen Kennedy- Haus, die Außenstellen wurden aufgegeben. Seit 1999 leitet Pater Markus Inama das Jugendzentrum, das heute an die 150 Mitglieder hat. Das Programm ist dünner geworden, auch weil die MK keine hauptamtlichen Erzieher und Angestellten mehr hat.

Ganz ruhig wird es in Zukunft um das Kennedy- Haus werden. Ein Bauansuchen ist gestellt, der Abriss des Gebäudes steht bevor. Ein Haus, das für viele Innsbrucker mehr ist als bloßes Mauerwerk. Es ist die Zeit ihrer Jugend, in der manche mehr Zeit in der MK verbracht haben als zu Hause. Die Erinnerung an den ersten Kuss, die erste Freundin, den ersten Freund. Die Erinnerung an die eigene MK-Zeit. zAndreas Hauser