VOICES!
DAS STIMMENFESTIVAL

KULTURZENTRUM - UTOPIA - CULTURAL CENTER
VOICES! 1992





SAINKHO NAMCHALAK




SAINKHO NAMCHALAK Sainkho Namchalak wurde 1957 in der autonomen Republik Tuvu nördlich der Mongolei geboren. 1981 übersiedelt sie nach Moskau, wo sie die Kultmusik des Lamaismus und Schamanismus aus Sibirien studiert. 1983 schließt Sainkho ihr Hochschulstudium ab und beginnt mit ihrer Studienarbeit am Gnesin-Musikinstitut. 1986 erreicht sie den zweiten Rang beim gesamtsowjetischen Wettbewerb der Folkloresänger, darauf folgt eine Tournee mit einer Folkloregruppe nach Spanien, USA und Canada. 1988 schließt sie ihr Studium am Gnesin-Institut mit dem Diplom ab und bereitet sich auf die Dissertation über Vokalstile in ritueller Vokalmusik Sibiriens vor.
Tourneen nach Italien, Schweden, Australien und Neuseeland folgen. 1989 unternimmt Sainkho Namchalak die letzte Tournee mit der Folkloregruppe, die sie nach Singapur und auf die Philippinen führt. Darauf folgen erste Auftritte mit frei improvisierter Musik mit der russischen Gruppe "Tri"o", u.a. bei Jazzfestivals in Deutschland. Gleichzeitig beginnt sie ihren Schauspielunterricht am Vassiliev-Theater in Moskau. 1990/91 entsteht die erste eigene Produktion am Werktheater Wedding in Berlin: "Junguska-Meteorit".
Es folgen gemeinsame Auftritte und Zusammenarbeit mit Irene Schweizer, Leo Streif, Werner Lüdi, Mani Neumair, Marko Kappeli, Andreas Vollenweider, Jaques Demierre, Butch Morris, Sunny Murray, Vladimir Jarasov, Christian Muthspiel, Roland Dahinden, Ned Rothenberg, Peter Kowald, New Djungle Orchestra, Guru Guru, Blauer Hirsch, Jon Art Ensemble Archangelsk, Tri"o" und Sergejkuriochins "Pop-mechanic a".

1991 gab Sainkho Namchalak Hans Kumpf vom "Jazz-Podium" folgendes Interview (gekürzt):

Wie kamen Sie zur Musik und zur musikalischen Ausbildung? In den Berichten über Sie taucht überall der Begriff "exotisch" auf.
Zuerst muß ich sagen: Es ist wirklich meine unverwechselbare Eigenart, daß ich für die Europäer exotisch bin. Von Anfang an interessierte ich mich ernsthaft für die Musik und war stets auf der Suche nach neuen Klängen. Ich setze mich mit kultischer Musik auseinander, deswegen wollte ich nicht konventionell singen. Ich wollte die althergebrachten Schemata verlassen. Bei mir zu Hause sagten dann die Leute über mich, daß ich überhaupt keine Stimme und keine Chance hätte. Die Kulturbürokraten meiner Heimat erkannten mich erst an, nachdem ich mit einigen Preisen ausgezeichnet war. Sie meinten dann auf einmal, daß ich eine außergewöhnliche Sängerin sei. Aber zu Beginn war ich auf mich selbst gestellt, niemand gab mir künstlerische Hilfestellung. Damals war ich ein einfacher Mensch ohne offizielle Unterstützung, heutzutage werde ich sogar als gewisse Autorität betrachtet. Im Zeitalter von Glasnost und Perestroika haben sich die Dinge in der Sowjetunion geändert; zuvor war es unmöglich, ohne eine staatliche Sanktionierung musikalisch emporzukommen und künstlerisch zu arbeiten.

Wie konnten sie dann früher Ihre Ausbildung erlangen?
In meinem Heimatgebiet wurde mir erklärt, daß ich nicht singen könne. Kurz darauf kam bei mir ein Baby an, anschließend packte ich meine Sachen und reiste nach Moskau. In Moskau wurde ich nach einem Vorstellungsgespräch sofort akzeptiert. Ich wurde sogar zu Fortgeschrittenen-Kursen eingeteilt.

Können Sie Ihre genaue Herkunft beschreiben? Es herrscht ja in einigen Artikeln Unklarheit, ob Sie aus der Mongolei oder aus der UdSSR stammen.
Ich komme aus der Autonomen Republik von Tuva, die an der Grenze zur Mongolei liegt und zur Sowjetunion gehört. Tuva wurde 1944 von der Sowjetunion annektiert. Unsere Volkskultur entspricht sehr der mongolischen, jedoch haben wir eine ganz eigene Sprache. Der Buddhismus ist unsere Religion. In der Ortschaft, in der ich aufwuchs, steht inzwischen kein Haus mehr. Sie verfiel wegen der allgemeinen Dorfflucht.

Seit wann sind Sie in der Jazzszene aktiv?
Ich fühle mich nicht als echte Jazzvokalistin. Ich möchte vielmehr eine Volksmusiksängerin im Jazzbereich sein. Mein Credo hat sich nicht verändert: Nach wie vor engagiere ich mich als eine Folkloresängerin, die zudem mit Mitteln des Jazz und der freien Musik arbeitet. Wie man das Resultat benennen mag, kann ich nicht sagen. Das ist eine Aufgabe für Musiktheoretiker.

Welche Vokalistinnen haben Sie besonders beeinflußt?
Hinsichtlich der asiatischen Kultur kann ich keine Namen nennen. In dieser Kultur sind Musik, Tanz und Farben fest verbunden. Die Spannbreite reicht da von geheimnisvollen mongolischen Liedern über die klassische Oper Chinas bis zum japanischen Noh-Theater. Bezüglich des westlichen Kulturraumes verändern sich meine Einflüsse ständig. Selbstverständlich bilden Mozart und Bach dabei eine Grundlage. Erst als ich 18 Jahre alt war, stieß ich auf modernere Musik: Die Beatles, Elton John, Stevie Wonder, Pink Floyd, Frank Zappa. 1979/80 hat mich dann Nina Hagen beeindruckt. Für mich war es bei ihr aufschlußreich, wie man eine kräftige Stimme einsetzen kann. Später hat es sich herausgestellt, daß andere "starke" Sängerinnen existieren: Laurie Anderson, Diamanda Galas, Meredith Monk. Ich finde die Ausstrahlung von Meredith Monk sehr poetisch und individuell. Außerdem gefällt mir Sergio Mendes.

Welche besonderen Unterschiede gibt es zwischen östlichen und westlichen Vokaltechniken?
Für einen westlichen Hörer sind meiner Auffassung nach zunächst die Rhythmik, die Intervallik und die Harmonik wichtig. Im Osten dominiert das Timbre, die Klangfarbe. Die mikrotonalen Verschiebungen sind hierin sehr bedeutsam. So kann der Sänger in dieser Musik einen Ton mit verschiedenen Sound-Schattierungen versehen. Ich möchte bekräftigen, daß dies mein eigener Eindruck ist.

Ein hervorstechendes Element Ihrer Performance ist die Gestik. Welche ästhetische Rolle spielt bei Ihnen die Verbindung von Musik und Szene?
Natürlich bewege ich mich, wenn ich singe. Von Anfang an war die Körperlichkeit des Musizierens gegeben. Bei der rituellen Musik bilden Töne und Bewegung ein unzertrennliches Ganzes. Der Klang bestimmt die Gebärde - und umgekehrt. Das ist eben die Tradition meiner asiatischen Heimat. Da ich beim Zuhörer und Zuschauer Phantasie fordern will, verwende ich keinen Text. Die Menschen sind so im Alltagstrott eingespannt, wenigstens im Konzert soll ihre Phantasie freien Lauf haben. Da spielt die Parapsychologie hinein - ich möchte meine Energie ausstrahlen lassen.

Welche Bedeutung hat die Schallplatte, die Sie als Kopfschmuck tragen?
Das hat keinen tieferen Sinn. Da sieht aber doch schön aus, nicht? Damit erlaubt sich eine Folkloresängerin eine Extravaganz und benimmt sich recht exotisch. Es handelt sich um eine LP der amerikanischen Rockgruppe Greatful Dead.

Discographie:

  • Lost Rivers (FMP, 1992)
  • When The Sun Is Out You Don't See The Stars (FMP, 1992)
  • Book Of Roses (A. Vollenweider, Impact 1991)
  • Document (Leo Rec., 1989)





VIBRASLAPS




VIBRASLAPS Seit 1991 arbeiten die in New York lebende Belgierin Catherine Jauniaux und die ebenfalls in New York lebende Japanerin Ikue Mori zusammen. Das Ergebnis: Vibraslaps- eine packende und sensible Zusammenführung der mitreißenden Stimme von Catherine Jauniaux mit dem High-Tech-Drumming von Ikue Mori. Catherine Jauniaux ist in Belgien aufgewachsen und arbeitete dort in verschiedenen Theatern. 1983 erschien ihr Album "Fluvial", ein gemeinsames Produkt mit Tim Hodkinson, und drei Jahre später gründete sie ihre eigene Band namens JONIO. 1989 übersiedelte sie nach New York, wo sie u.a. mit David Moss, Chris Cochrane, Fred Frith und der Gruppe THIRD PERSON zusammenarbeitete. Sie ist Komponistin und Improvisateurin mit einem starken Hang zur Imitation realer Sounds in einer unwirklichen Welt, was ihr Attribute wie "One-Woman-Orchestra" oder "Human Sampler" einbrachten.

Ikue Mori übersiedelte 1977 von Tokio nach New York, gründete die Band DNA, zwei Jahre später "John Givanti". Nach Zusammenarbeit mit der Improvisationsszene in New York ging Ikue Mori wieder zurück nach Japan, wo sie die Band FUKUKO gründete und mit elektronischem Schlagzeug zu arbeiten begann. Zurück in New York folgten Aufnahmen und Konzerte mit allen Größen der dortigen Szene.

Von Vibraslaps, dem Duo Catherine Jaunaux und Ikue Mori, gibt es derzeit noch keine Veröffentlichung.


Catherine Jauniaux

  • Aksak Maboul: "Un Peu de I'ame de Bandits" (Crammed Disc)
  • The Work: "Slow Crimes" (Recommended Rec. London)
  • "Fluvial" (mit Tim Hodkinson, Wolf Lee, London)
  • Third Person: "The Bends" (Knitting Factory, New York)
  • The Ex: "Scrabbling At The Look" (RecRec Zürich)
  • Tha Hat Shoes: "Differently Desperate" (RecRec Zürich)


Ikue Mori:

  • DNA: "No New York" (Island Rec.)
  • mit John Zorn und Wayne Horvitz: "Locus Solos" (Rift Rec.)
  • Tohban Djan: "Luli Shioi" (NATO)
  • mit Fred Frith und Mark Dresser: "Live At The Knitting Factory" (A&M)
  • mit David Garland und Cinnie Cole: "World Of Love" (NoMansLand)mit Jim Stanly, Davey William, Zeena Parkins und Tenko (Rift Rec.)





DIMITRI POKROVSKY ENSEMBE




DIMITRI POKROVSKI ENSEMBLE Herr Pokrovsky, Ihr Ensemble besteht mittlerweile annähernd 20 Jahre. Wie kam es zur Gründung der Pokrovsky-Singers?
1973 habe ich mit meinen Studenten ein Experiment gemacht: Es ging damals um das Ausprobieren und Überprüfen meiner Theorie, wonach auch von ungeübten Stimmen komplizierteste Gesangstechniken über das Gehör nachempfunden und durch hartes Training eingeübt werden können.

Auf welche Techniken beziehen Sie sich?
Ich meine die uralte Vokaltechnik in den russischen Dörfern. Ich habe diese Technik mittels Spektrogramm untersucht und versuche mit Hilfe meiner Studenten und auf der Grundlage dieser Ergebnisse, die uns tradierten Gesänge nachzuempfinden. Wir haben Röntgenaufnahmen gemacht und ich kann sagen, daß ich buchstäblich mit der Hand versucht habe, die Art und Weise des Atmens zu untersuchen. Wir stellten dabei fest, daß bei vielen Gesängen ganz andere Atemtechniken praktiziert wurden. Die Art, die Stimmbänder zu bewegen, war ähnlich dem natürlichen Schreien. Auch die Artikulation ist eine andere als die, die wir vom normalen Singen her kennen. Stimmbänder und Rachen werden beim Singen aktiver eingesetzt.

Wie ging dann die Umsetzung dieser Ergebnisse vonstatten? Hatten die Ensemble-Mitglieder besondere Qualifikationen mitzubringen?
Mitzubringen brauchten meine Studenten nur ein gutes Gehör und den Willen, intensiv zu proben. Die meisten meiner Studenten konnten damals überhaupt nicht singen. In erster Linie war es eine Frage der Geduld, die Technik zu erlernen, wie man die Zunge oder die Lippen bewegen mußte, um adäquate Töne zu produzieren. Die Fähigkeit, diese Laute dann beim Singen zu gebrauchen und umzusetzen, gelang allerdings nicht allen.

Wenn man sich vor Augen hält, daß Sie dieser Arbeit nunmehr seit 17 Jahren nachgehen, stellt sich die Frage, woher eigentlich Ihre Faszination für die alten russischen Gesänge rührte. Sie haben früher als Physiker gearbeitet und waren in Ihrer Heimat in den 60er Jahren als Avantgardemusiker bekannt. Gab es ein Schlüsselerlebnis für Sie?
Ja, das gab es tatsächlich. Es war ein Jahr bevor das Ensemble gegründet wurde, also 1972. Ich befand mich im Urlaub in einem nordrussischen Dorf und ganz zufällig hörte ich das Singen von fünf älteren Frauen. Großmütterchen, wie man bei uns sagt. Die Art und Weise, wie diese Frauen Töne und Laute produzieren, war ein Schock für mich. Die Lautstärke, die sie erzeugten, war stärker als die eines Düsenflugzeugs.

Es ist Ihnen und Ihren Mitarbeitern gelungen, mehrere tausend verschiedene alte russische Lieder vor dem Verschwinden zu bewahren. Wie wurde und wie wird diese Arbeit von der Öffentlichkeit wahrgenommen?
Ich muß hier etwas klarstellen: Es ist nicht die Hauptaufgabe unseres Ensembles, diese Lieder zu sammeln und zu archivieren. Es gibt genügend andere Institutionen, die sich ausschließlich damit beschäftigen und die in der Lage sind, Expeditionen durch das ganze Land zu machen. Allerdings ist ihre Situation mehr als kompliziert, denn es gibt keine Tonbandkassetten oder Tonbänder, und ohne diese Hilfsmittel ist es schwer, all das zu archivieren. Wie gesagt, es war und ist nicht Hauptaufgabe, Lieder anzuhäufen. Es gibt schon seit 2000 Jahren Leute, die sich damit beschäftigen. Es gibt Millionen gesammelter Lieder, aber die sind tot und zudem der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich. Wir sehen unsere Aufgabe darin, diese Lieder wieder zu beleben, lebendig zu machen.

Wie wirkt Ihre Arbeit in der Sowjetunion? Hat es da vor dem Hintergrund von Glasnost und Perestrojka Veränderungen gegeben?
Wir haben unser eigenes Publikum, vorwiegend Intellektuelle. Unser Publikum sieht in unserer Musik keine antiquierte Geschichte, sondern moderne Kunst. Was die aktuelle Situation betrifft, muß ich konstatieren, daß es für uns als Künstler schwerer und komplizierter geworden ist. Die Leute interessieren sich mehr für Politik und die aktuellen Probleme des Alltags. Sie sind aktiver geworden. Was uns natürlich freut ist, daß wir die Form unserer Tätigkeit jetzt frei wählen können, d.h., wir können nun jederzeit in die Dörfer zurückkehren, in denen wir begonnen haben und wo unsere Kunst entstanden ist. Das heißt auch, daß wir unsere Lieder an Ort und Stelle wiedererleben und beleben können.

Es gab um die Person Juri Ljubirnovs einen handfesten Theatereklat, bei dem auch der Name Dmitri Pokrovsky fiel. Hat sich nach diesem Skandal, den Sie sicher wesentlich prägnanter als ich in ein paar Sätzen darstellen können, Ihr Verhältnis zur Bürokratie verändert?
Wir haben zusammen mit Juri Ljubirnov, dem Chefregisseur des Taganka-Theaters, 1981 den "Boris Godunov" inszeniert. Dieses Stück wurde auf allen Plakaten als "Volksaufführung von Juri Ljubirnov (Regie) und Dmitri Pokrovsky (Musik)" angekündigt. Die Idee, dieses Drama zu inszenieren, wurde schon Ende der 70er Jahre geboren, und Vladimir Wisotzky sollte den Godunov spielen, doch dann starb er, und die Inszenierung wurde verschoben und erst 1981 realisiert. Die Idee zu dieser Inszenierung stammte aus den Briefen Puschkins selbst. Für Ljubirnov bestand der Grundgedanke seiner Aufführung darin, keine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert zu erzählen, sondern Kontinuität von Geschichte darzustellen und damit eine sehr moderne und aktuelle. Mein Ensemble hat versucht, die Texte von Puschkin zusammen mit den Texten der Volkslieder zu verbinden, und so entstand ein Gesangsspiel über Volk und Macht. Durch die Texte der Volkslieder gelang es uns, den Puschkintext besser zu begreifen, und bis jetzt ist es uns allen unerklärlich, was eigentlich die Kommission aus dem ZK und dem Kulturministerium während der Vorpremiere in solch große Angst und Entsetzen versetzte. Man mußte wirklich über eine gänzlich falsche Denkweise verfügen, um Breschniev mit Boris Godunov zu vergleichen. Den Mitgliedern der Kommission jedoch schien das überhaupt keine Mühe zu bereiten. Ljubirnov allerdings war ein hervorragender Taktiker und irgendwann gelang es ihm, diese Assoziation argumentativ zu entkräften. Zu diesem Zeitpunkt war Breschniev jedoch schon gestorben. Worauf die Kommission nichts anderes im Kopf hatte, als den nächsten Parteichef, Jurij Andropov, mit der Person des Godunov gleichzusetzen. Als Ergebnis wurde die Inszenierung verboten. Nach der Vorpremiere sollte eigentlich eine Besprechung stattfinden, aber die Kommission stellte keinerlei Fragen an das Publikum oder das Ensemble, sondern verließ einfach den Saal. "Boris Godunov" war das früheste Werk, an dem ich mitarbeitete und das unter die Zensur fiel. Spätestens ab dem Moment, in dem ich zu diesem Skandal öffentlich Stellung bezog und die Regierung der Sowjetunion zum Duell aufforderte, begannen für mich die wirklichen Probleme mit der Bürokratie.

Wie ist das Duell ausgegangen?
Das Duell wurde erst zu dem Zeitpunkt beendet, als ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Bis dahin dauerte es allerdings eine ganze Weile. Bis es soweit war, veranstaltete ich verschiedene öffentliche Treffen und Lesungen, in denen ich anhand des "Godunov" verdeutlichte, wie man bei uns im Land die Kultur vernichtet. Als ich dann ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hat man mich völlig verboten, da war es überhaupt nicht mehr möglich für mich aufzutreten.

Gab es jemals eine Rehabilitierung Ihrer Person?
Ja, die Verleihung des Staatspreises durch Michail Gorbatschov war ein Akt der Rehabilitierung. Des weiteren wurde uns erlaubt, erstmals auf Gastspiele ins westliche Ausland zu fahren. Vielleicht ist auch interessant, daß noch kurz vor meiner Rehabilitierung der Erlaß erging, alle sich im Archiv des staatlichen Rundfunks befindlichen Aufnahmen meines Ensembles zu vernichten. Ein guter Freund, der dort arbeitet hat die Aufnahmen unter hohem persönlichen Risiko vor dem Zugriff der staatlichen Zensur bewahrt.

Sie sehen sich laut eigenem Bekunden in der Tradition des großen russischen Komponisten Michail Glinka, der den Satz prägte: "Lieder sind die Seele der Nation". Glauben Sie, daß die Bürokratie eben davor Angst hatte?
Die Bürokratie hatte damals zwei Aufgaben bzw. zwei Ziele: das erste bestand einfach darin, mich zu bestrafen, und zwar durch die Vernichtung der Tonbänder, ganz ähnlich also, wie auch mit den Aufnahmen der Emigranten verfahren wurde. Als zweites Ziel hatte man dieses System, alles unter Kontrolle zu haben. Die Angst, die Kontrolle über irgendetwas zu verlieren, war auch der Grund dafür, daß wir Repressionen ausgesetzt waren. Denn ich bin davon fest überzeugt, daß die Kunst meines Ensembles individuelle Freiheit gibt, und diese Kunst ist unkontrollierbar. Vielleicht sahen die Bürokraten darin die Gefahr.

Sie messen den russischen Volksliedern eine enorme Stärke zu. Worin liegt für Sie die eigentliche Faszination, die Sie zu dieser Annahme und letztendlichen Hingabe bewegt?
Für mich ist diese Musik vor allem eine sehr lebendige Musik, eine sehr natürliche Musik. Die Gesetze, nach denen sie sich entwickelt, sind die der Natur. Diese Musik ist immer anders, und wenn ich singe, kann ich mein Singen und das Singen meines Ensembles mit dem Feuer oder Wasser vergleichen. Darin besteht für mich vielleicht die Hauptfaszination für diese alten Gesänge, zu denen ich eine lang anhaltende Liebe entwickelt habe.

Wie würden Sie die Arbeit Ihres Ensembles im Kontext der sowjetischen und europäischen Kulturszene einordnen?
Wir sehen uns als Teil der modernen europäischen Kultur. In diesem Sinne unterscheidet sich unsere Musik wesentlich von der klassischen oder meinetwegen auch der chinesischen oder indischen Musik. Die Tatsache, daß wir die Werke der modernen Komponisten, der modernen Musik, mit derselben Technik singen können wie unsere volkstümlichen Lieder, bedeutet, daß die Wurzeln ähnlich sind.

Gab und wird es eine Zusammenarbeit mit anderen Kunstgattungen oder den von Ihnen eben erwähnten modernen Komponisten geben, oder ist in Zukunft daran gedacht, die Ensemblearbeit isoliert fortzusetzen. Mir ist bislang - außer Ihrer Zusammenarbeit mit dem Taganka-Theater - nur eine Schallplattenproduktion mit dem Paul Winter Konsort bekannt, die ich aufgrund des musikalischen Kontrastes sehr interessant finde.
Unser Ensemble hat nie als isolierte Gruppe gearbeitet. Von Anfang an gab es eine Kooperation mit modernen Avantgardemusikern wie Schnittke, Gubaidulina oder Artemov. Ebenso gab es kontinuierliche Konzerte mit Jazzmusikern wie zB. Ganelin oder dem Archangelsk-Ensemble, wobei - wie auch bei der angesprochenen Produktion mit Paul Winter - unsere Musik nur als Ausgangsstoff für gemeinsame Improvisationen während des Konzertes diente.

Aus meiner bisherigen Kenntnis der sowjetischen Szene ist ein Phänomen zu beobachten, daß für deutsche Verhältnisse nahezu unvorstellbar wäre. Ich meine damit die bei einem so riesigen Land, wie es die Sowjetunion ist, unglaubliche Verflechtung von Intellektuellen und Künstlergruppen, egal ob im Theaterbereich, in der Kunst oder im Bereich der Musik. Wenn man bei einem bestimmten Qualitätsniveau ansetzt, kennt jeder jeden und jeder hat mit jedem schon zusammengearbeit. Wie ist dieses Phänomen eigentlich zu erklären?
Dazu kann ich nur sagen, daß der Kreis dieser Gleichgesinnten, die im Laufe der letzten drei Jahrzehnte das geschaffen haben, was man mit "neuer Kunst" umschreiben könnte, außerordentlich klein ist. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Vielleicht ist dieses Phänomen auch geschichtlich zu erklären, denn schon im 19. Jahrhundert war es ganz typisch für Rußland, Künstlerverbände zu schaffen. Oder sehen Sie Anfang des 20. Jahrhunderts die Futuristen oder den Kreis um Alexander Block. Vielleicht ist das Ganze auch eine Frage der Mentalität, da überwiegen halt bei uns Emotionen und Gefühl gegenüber dem Verstand, und um diesen Emotionen Ausdruck zu geben, braucht es eine Gesellschaft von Gleichgesinnten.

Das Gespräch mit Dmitri Pokrovsky führte Lutz Engelhart anläßlich des Erscheinens der LP "Gesichter Rußland", 1991. Lutz Engelhart organisiert das kulturelle Rahmenprogramm der DOCUMENTA in Kassel. Das Dmitri Pokrovsky Ensemble trat dort zur Eröffnung im Juni 1992 auf.

Discographie:

  • Gesichter Rußlands (Trikont)
  • Wild Field (Real World)





OCTOPUS VOCALIS




OCTOPUS VOCALIS
Sopran:
 
Andrea Eberl (Wörgl)
Burgi Pichler (Innsbruck)
Alt:
 
Gerline Singer (Wattens)
Annemarie Dragosits (Mils)
Tenor:
 
Andreas Winkler (Innsbruck)
Bernhartd Schafferer (Raitis)
Bass:
 
Martin Ganglhofer (Matrei a.Br.)
Hansjörg Sofka (Mils)
Leitung: Sigi Portugaller (Innsbruck)

Der Chor OCTOPUS VOCALIS ist ein Doppelquartett, das aus (z.T. ehemaligen) Schülern des Musikgymnasiums Innsbruck hervorgegangen ist. Als 8-stimmiges Ensemble ist es für die Musik der Klassik und der Romantik völlig ungeeignet. Daher widmete sich der Chor als erstes jenen Wurzeln, in denen die Musik zum Zwiegespräch und zum Wettstreit wird, nämlich dem Frühbarock. Jeder kann dort seine eigene Linie singen und dies frisch, solistisch und konzertierend.

"Wir sind eine Doppelpolgruppe," erzählt der Leiter des Chores und Musikprofessor Sigi Portugaller. Was den Barock anbelangt, widmet sich das Doppelquartett Komponisten wie Claudio Monteverdi, Heinrich Schütz ("Beeindruckt mit seiner Innigkeit"), Thomas Thomkins, Thomas Weelkes und Henry Purcell. "Der andere Pol, über den wir einsteigen, ist moderner, nicht klassisch, eher der U-Musik zuzuordnen. Es sind dies Bearbeitungen und Arrangements von bekannten Melodien, Popschlagern und vor allem Gospels und Spirituals in allen möglichen Variationen."

Entstanden ist die sehr junge Gruppe (Durchschnittsalter: 18 Jahre) bei einem Ausflug in die Steiermark, als einfach gesungen wurde, und dies Spaß gemacht hat. "4 Stimmen waren zu wenig, daraus wurde ein Doppelquartett, und so der Name OCTOPUS, also "acht". Das war vor 3 Jahren. Seither gab es enorme Fortschritte, es geht übers Notenlesen hinaus. Der Anspruch ist gestiegen, wir wollen uns in die Musik eindenken. Was den Frühbarock anbelangt, heißt das, daß wir den Text nehmen und ihn zum Leben erwecken wollen. Unser Ziel ist es, Frische und Lebendigkeit hineinzubringen und zeigen, daß Alte Musik fast schon jazzig klingt, daß sie swingt." (Portugaller)

Verschiedene Erfolge und Konzerte (z.B. in Kirchen, 1. Preis Cum Laude bei einem Wettbewerb in Meerpelt, Belgien) bestätigten die Gruppe und schweißten sie zusammen.

Die neueste Richtung, der sich OCTOPUS VOCALIS widmet, ist Musik des 20. Jahrhunderts, allerdings keine U-Musik, sondern Komponisten wie Werner Pirchner, Haimo Wisser, Bardos Lajos sowie Kropfreiter und Heiller. "Darüberhinaus wollen wir von Noten weggehen, den Gesang als gruppendynamischen Prozeß im weiteren Sinne sehen, mit Improvisation aufeinander reagieren und so Harmonie herstellen. Oft sind Stücke auf eine Art geschrieben, daß sie nicht gut liegen. Durch die Improvisation kann jeder über notierte Stücke die volle stimmliche und sinnliche Qualität seines Instuments auskosten. Beim Improvisieren ist allerdings anfangs eine Peinlichkeitsschwelle zu überwinden, denn es geht von allem weg, was die Sänger bisher in ihrer Ausbildung eingetrichtert bekommen haben."

Alle 8 Sänger haben eine klassische Instrumentalausbildung am Konservatorium erhalten. Zum Zeitpunkt des Festivals stehen zwei mitten im Prozeß der Reifeprüfung. Der Chor, im Musikgymnasium entstanden, hat dieses also bereits zum Großteil verlassen, sich emanzipiert, wird aber weitermachen. Geplant ist eine Tournee durch Österreich sowie eine Teilnahme am Chorfestival in Arezzo in Italien. "Die Improvisation ist in der klassischen Musikausbildung nicht vorgesehen" bedauert Sigi Portugaller. "Kaum ist das Notenblatt weg, stehen viele vor dem Nichts. Früher mußte man in der Kirchenmusikausbildung auch auf der Orgel improvisieren können. Und diese Fähigkeit wollen wir stimmlich entwickeln. Als Einstieg wählen wir minimalistische Modelle und Ostinati (gleichbleibende Tonfolgen, die als Grundierung zur darübergelegten Improvisation dienen)." Voraussichtlich wird beim Auftritt von OCTOPUS VOCALIS ein Silbensprechstück von Harald Weiss, 2 Soldatenlieder von Werner Pirchner, das Requiemstück "Libera Mae" von Bardos Lajos und der Popsong "Sailing" zu hören sein. Anschließend wird das Stück "Conjure" aufgeführt, das der Chor OCTOPUS VOCALIS gemeinsam mit David Moss eigens für das Festival VOICES! erarbeitet hat.

"David Moss wird uns dort abholen, nämlich beim Offenen, bei dem, das wir noch nicht kennen. Wir sind keine Pavarottis, er kann dafür mit uns etwas machen, was sich ausgebildete Sänger nicht mehr trauen. Wir sind experimentierfreudig, eine eingeschliffene Steifheit ist nicht vorhanden." mit Sigi Portugaller sprach Christoph Moser





DAVID MOSS
"... the Avant-Godfather of Noise-Music"




DAVID MOSS Nichts verabscheut der 1949 in New York geborene (und derzeit durch ein DAAD-Stipendium in Berlin lebende) David Moss ,der "Pavarotti der Avantgarde", so sehr wie das Denken in festgefahrenen Kategorien. "Die Herausforderung für mich liegt in der ständigen Suche etwas Neues zu tun- mich immer wieder auf Un-Erhörtes einzulassen. Wir haben Millionen Ideen, und die Auswahl, die in unserem Gehirn passiert, wenn wir spielen, ist vergleichbar mit einem Roulette-Rad, an dem es alle Sounds und Sequenzen zu finden gibt. Wir plazieren sie dort vor dem Konzert und, je nach dem wo das Rad stehen bleibt, wird es besser oder schlechter, interessanter, verrückter, lauter oder leiser."

Programm für VOICES!:
"Language Linkage"
(composed & performed by D. Moss)
"Together Before Jumping"
(composed & performed by D. Moss)
"Conjure"
(composed by D. Moss, performed by D. Moss & Octopus Vocalis)

Discographie (Auszug):
David Moss Denseband (Earation)
My Favourite Things(Intakt)
Direct Sound (Intakt)
The Day We Forgot (NoMans Land)





FATIMA MIRANDA
La Voz Cantate




FATIMA MIRANDA Fatima Miranda stammt aus Salamanca und lebt zur Zeit in Madrid. Dort studierte sie Kunstgeschichte an der Universität Compultense, klassischen Gesang, Saxophon und Percussion, veröffentlichte zwei Bücher sowie Artikel über zeitgenössische Kunst- vor allem über zeitgenössische Architektur. Um neue Techniken zu erlernen, setzte sie sich mit anderen Musikkulturen auseinander, studierte 1986 japanischen Gesang bei Yumi Nara in Paris, und von 1987 bis 1989"Dhrupad", eine hinduistische Liedform des Mittelalters bei Ustad Zia Fariduddin Dagar in Indien.

Daraus entwickelte sie eine Reihe eigener Techniken. Seit 1979 arbeitete sie u.a. mit dem Ensemble TALLER DE MUSIC MUNDANA, einer Gruppe, die mit Klangquellen wie Wasser, Steinen, Holz und traditionellen Instrumenten experimentiert, dem ERRATUM-Ensemble und dem Ensemble FLATUS VOCIS. Ihre Stücke sind stark strukturiert, mit einer gewissen improvisatorischen Freiheit.

Was unterscheidet die Stimme von anderen Instrumenten!
Das ist sehr einfach. Die Stimme trägt man mit sich, in sich, immer. Aber die Stimme ist ein sehr zerbrechliches Organ. Früher habe ich Saxophon gespielt, bevor ich mich der Stimme gewidmet habe. Mit dem Saxophon war es angenehmer, weil es eine Verlängerung des Körpers ist. Man kann, wenn man technisch gut ist, mit dem Saxophon verschiedene Emotionen erzeugen, mit der Stimme jedoch zeigt man, wie es in einem aussieht, man kann das nicht verhindern. Man gibt ein Konzert, die Leute warten, und wenn man Bauchweh hat oder wenn dich etwas angewidert hat oder auch, wenn man über eine Neuigkeit total erfreut war. Wenn man singt, ist man nackter. Wenn man eine Arbeit zwischen Improvisation und Komposition macht, ist man auf der Bühne nackt. Man entdeckt sich, gibt mehr von sich selbst, das ist meine persönliche Erfahrung. Ich singe allerdings auch Repertoire, jedoch zeitgenössisches.

Wie bist Du zur Musik gekommen?
In der zeitgenössischen Kunst, der Avantgarde nach der Jahrhundertwende - ich habe Artikel darüber geschrieben - interessierte mich auch die Dimension des Klanges. Ich hatte dann die Möglichkeit, in der Gruppe TALLER DE MUSIC MUNDANA mitzuarbeiten, wo Musik mit irgendwelchen Instrumenten und irgendwelchen Klangquellen gemacht wurde. Das waren etwa Wasser, Steine, Holz, auch traditionelle Instrumente, die aber nicht ausschließlich in einer traditionellen Art benutzt wurden. Es war damals, als ich meine Stimme entdeckte - wie eine organische Notwendigkeit. Ich hatte keine Stimmausbildung, doch nach ein, zwei Jahren im TALLER kam meine Stimme heraus. Das passierte nicht auf eine normale Art. Es gab manchmal Töne, die mich überraschten, Doppeltöne, Dreifachtöne, und so sagte ich mir, halt, das mußt du entwickeln, ohne die Stimme zu beschädigen. Und so habe ich klassischen Gesang studiert, mit sehr guten Lehrern und Lehrerinnen.

Du hast über faschistische Architektur geschrieben. War das Politische wichtig für Deine Entwicklung?
Selbstverständlich. Für mich gehört alles zusammen. Wenn ich heute singe, wie ich singe, so weil ich eine Arbeit zur zeitgenössischen Architektur gemacht habe und weil ich politisch engagiert war. Ich war in keiner politischen Gruppe, weil ich mit keiner einverstanden war. Ich war links von der kommunistischen Partei engagiert, das war gefährlich, weil das an der Grenze des bewaffneten Kampfes stand und damit war ich auch nicht einverstanden. Ich war sogar zwei Tage im Gefängnis während der Zeit Francos. Die Diskussionen um den Eurokommunismus waren mir zu reformistisch, aber schlußendlich war auch diese Diskussion notwendig. Ich glaube, es gibt nichts, was nicht in einer Verbindung steht im Leben. Alles ist verbunden, Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Klassenkampf, die Hierarchie der Berufe, die Frage, wer ein Künstler und wer ein Techniker ist. Man kann daraus für anderes, was man tut, lernen. Es ist nicht der Architekt oder der Techniker wichtiger. Oder in der Musik die Frage: was ist ein Komponist, was ist ein Improvisator, was ist ein Interpret, was ist Rezitation, was ist Gesang.

Du setzt dich auch mit anderen Musikkulturen auseinander ...
Ja, aber nicht a priori, sondern a posteriori. Während der Zeit, als ich meine Stimme entdeckte, hörte ich auch Radio, und da ist es manchmal passiert, daß ich etwa Gesang der Pygmäen gehört habe oder Musik der Berber und da gab es Koinzidenzen. Daraus schließe ich, daß es universelle Musiksprachen gibt. Ich glaube, in uns gibt es eine Art Gedächtnis, historisch, musikalisch, klanglich, das nicht bewußt ist.

Das heißt, daß man Dinge weiß, ohne daß man es weiß. Es gibt Leute, die das nicht aus sich rauslassen, und bin sehr unzufrieden, daß das bei mir gekommen ist; ich habe bemerkt, daß das verschiedene Sprachen sind und habe mich entschlossen, diese Sache zu entwickeln. Eines Tages etwa kam ein Japaner und sagte, daß mein Gesang ihn an koreanischen "p'ansori" erinnere. Ich wußte nicht, was das ist, habe aber eine Kassette bekommen und dann ein Stück daraus entwickelt, etwas zwischen Theater und Gesang. Ich nehme also nichts von anderen Kulturen, es spielt sich umgekehrt ab. Ich finde meine Stimme in anderen Kulturen wieder. Es ist allerdings anders, wenn ich nach Indien gehe, um Musik zu studieren.

Bei den Kursen mit dem Meister fühlte ich mich zuerst lächerlich. Ich sah, daß die Mitstudierenden ihre Hände in gewisser Art und Weise bewegten, und ich fragte mich, wie man das macht. Ich fühlte mich also lächerlich, doch nach einigen Monaten brauchte ich meine Hände genauso, um sicher zu sein, daß ich die richtige Note im Ohr habe. Das ist eine ganze Sprache, die beim Singen hilft, bei der musikalischen Phrase. Ich vermute, daß das in Verbindung steht zu den "mudras", den Handgesten, die man beim indischen Tanz braucht.

Was meinst Du damit, daß es Dinge gibt, die man weiß, ohne daß man sie weiß?
In unserem Unterbewußten hat es etwas Eingeschlossenes, eine Art von gespeicherten Klanginformationen. Es sind die Natur, die Tiere, die Musik. Manchmal sagt man mir, hier töne es wie japanische Musik, sephardische, hier wie Flamenco, wie indische, koreanische Musik, was ich gar nicht alles studiert habe. Wir haben das alles in uns, nur lassen wir es nicht raus. Ich tue das aber, und deswegen können sich die Leute auch mit einer solchen Sprache identifizieren. Natürlich gibt es in mir auch das Spanische. Es gibt mir Farben, eine Tiefe der Stimme, die aus meinem Bauch kommt. Aber für mich ist es das gleiche wie der Gesang der Wale, es gibt da keinen Unterschied zum Flamenco. Im Stück "La Voz Cantate" gibt es eine Stelle, wo ich eine Frau spiele, die leidet, eine Frau, die kämpft, ich benutze dabei nur Phoneme, die man nicht versteht, doch ich schaffe damit eine Atmosphäre, Situationen, die die Leute verstehen. Ich haben diesen Monolog in Deutschland gemacht, und die Leute haben sich damit identifiziert, haben die Situation verstanden.

Ist dieser Monolog denn auch feministisch gedacht?
Er ist feministisch, weil ich eine Frau bin. In diesem Stück mache ich alles, ich spiele ein kleines Mädchen, eine Hexe, ich spiele den Mann, die leidende Frau, die verliebte Frau, die sinnliche Frau, die dumme Frau, die Fernsehansagerin. Ich glaube, daß wir in uns verschiedene Persönlichkeiten haben. Man hat eine animalische Seite, eine dumme, eine seriöse, eine meditative, religiöse, spirituelle, eine sinnliche; man erkennt das oder eben nicht. Und es gibt auch die männliche Seite, wobei das relativ ist. Denn was ist das, der Mann? Die Rache, die tiefe Stimme, die Selbstsicherheit, das ist der Mann, aber auch die Frau, ich sehe keinen Unterschied. Der einzige Unterschied ist, daß Frauen gebären können, sonst gibt es keine großen Unterschiede. Ich habe eine männliche Seite, aber ich fühle mich sehr als Frau.

Mit Fatima Miranda sprach Thomas Adank (für die Taktlos-Zeitung, WOZ-Zürich Nr. 12/92)

Discographie:

  • Voices Of The Voice (Unio Musics)





GREETJE BIJMA
... the mistress of sounds ...




GREETJE BIJMA Greetje Bijma, geb. 1956 in Stiens, Niederlande, begann ihre musikalische Karriere Ende der 70er Jahre mit Konzerten vor privatem Publikum. Ihre Auftritte bestritt sie mit improvisierten Songs, welche sie mit ein paar Gitarrenakkorden untermalte. 1979 nahm sie am "Laren Jazzpodium" teil..

Seit1980 arbeitet Greetje Bijma u.a. in dem vom kanadischen Saxophonisten und Komponisten Alan Laurillard gegründeten Musikensemble NOODBAND (bis 1983), dem Schlagzeuger Han Bennink und dem Cellisten Ernst Reyseger und nahm an Workshops des New Yorker Trompeters und Komponisten Jalalu Kalvert Nelson teil.

Zusammen mit Alan Laurilland gründete sie das GREETJE BIJMA KWINTET. Ein Jahr später erschien die Platte "Amycamus", die zweite Platte des Quintetts, "Dark Moves", erschien 1988.1990 ging Greetje Bijma´s a capella Quintett DIRECT SOUND (David Moss, Shelly Hirsch, Anne Holmer und Carlos Santos) auf Tournee.1991 erschien die CD "Tales Of A Voice" bei Enja Records. 1991 erschien die CD "Tales Of A Voice" bei Enja Records.

Im Interview sagt Greetje Bijma: "Manchmal verwende ich Sprache, aber niemals eine Sprache mit besonderer Lyrik. Man glaubt, Worte zu erkennen, wobei für mich jedoch nicht deren Bedeutung, sondern Ihre Gefühlsinhalte wichtig sind."





PHIL MINTON




PHIL MINTON Phil Minton, der Sohn eines walisischen Choralsängers, übersiedelte in den frühen 60er Jahren von Torquay nach London und spielte im Mike Westbrook Orchestra Trompete. In den 60ern und frühen 70er Jahren war er in verschiedenen Bands und Orchestern engagiert.
Gemeinsam mit Maggie Nichols und Julie Tippets gründete er die Vocal-Gruppe VOICE und trat gemeinsam mit vielen britischen Experimentaltheatern auf. Er ist sowohl als Gast bei mehreren europäischen Gruppen und Orchestern zu hören, als auch als ständiges Mitglied der MIKE WESTBROOK BAND, Lindsay Coopers OH MOSCOW, dem GRUBENKLANG ORCHESTER, dem DEDICATION ORCHESTRA und singt beim Streicherquartett HARBINS BED. Er gibt Solo-Auftritte und singt in Improvisations-Duos und -Trios, u.a. mit Peter Brötzmann, Michael Waisvisz, Roger Turner, John Butcher, Radu Malfati und Phil Waxmann.
"Phil Minton versetzt sich oft in die Rolle des unterdrückten, angesichts festgefahrener Herrschaftsstrukturen Ohnmacht empfindenden Menschen, der sich trotz geringster Hoffnung immer wieder zu erheben wagt. Er wringt förmlich die Töne und ächzenden Klänge aus sich heraus, bis sie langsam zum verzweifelten, zeitweilig sogar pathetischen Aufschrei anwachsen. Musik wird so zur verlängerten Möglichkeit der Sprache." (Peter Brötzmann)

Discographie (Auswahl):
mit Mike Westbrook:

  • THE CORTAGE (Original Music)
  • MAMA CHICAGO (RCA)
  • ON DUKES BIRTHDAY (Hat Art)
  • OFF ABBEY ROAD (Enja)

VOICE (Orgun) mit Lol Coxhill:

  • WELFARE STATE (Virgin)

mit Lindsay Cooper:

  • RAGS (Arc Rec.)
  • SOLO (Rift Rec.)
  • FRITH, MINTON, OSTERTAG (Rift Rec.)

mit David Moss:

  • FULL HOUSE (Moers Music)





DIAMANDA GALAS
JUDGEMENT DAY




DIAMANDA GALAS Ein Gespräch mit Diamanda Galas über Herz, Seele und Qual

PO LI definierte Poesie als "ein Sturzbach / aus einer kleinen Verwundung / des Herzens", als ob jeder Strich des Kalligraphenpinsels eine blutende Verletzung bedeutete. Das Herz ist heute stark entmystifiziert worden (bloß dem Penis wurden noch mehr Bedeutungsinhalte weggenommen), aus dem Sitz der Gefühle in der Romantik ist ein geschwätziger, pragmatischer Muskel geworden, befragt von Reader's Digest - "Ich bin Johns Herz. Ich bin nicht wirklich herzförmig..." Erfüllt, entflammt, gebrochen und dann einfach transplantiert - das Herz als ideale Metapher für unseren modernen Fortschritt. Wie bei vielen anderen Begriffen hatte es die Sprache schwer, mitzuhalten; immer noch spielen, kämpfen und singen wir "mit Herz".

Diamanda Galas ist Romantikerin. Wenn sie singt, dann kommt es ganz nahe vom Herzen. Am Abend, bevor wir miteinander sprachen, hatte sie zum ersten Mal die Vena Cava in Philadelphia gesungen, ein schaurig klares Stück mit einem nervösen pulsierenden Rhythmus. Ursprünglich ein Teil der Plague Mass, hatte das Stück eine Art von Eigenleben entwickelt. Es dringt tief in den Bereich der Beziehung von AIDS, Demenz und akuter, klinischer Depression vor. Robert Lowell nannte Depression "Staub im Blut" und brachte es damit auf den Punkt. Die Vena Cava ist jenes Blutgefäß, welches verbrauchtes Blut zur Lunge zurückbringt; genau hier setzt Galas mit wundervollem würgenden Grollen an, und wirklich, es schneidet dir ins Herz .....

Man muß sich die Beziehung zwischen Luft und Gesang vergegenwärtigen und ihre Sehnsucht verstehen, ins dunkle sauerstofflose Blut einzutauchen und von diesem letzten Abendmahl zu singen, in einer schwarzen Messe von AIDS und Verzweiflung. "Ich wollte diejenigen Bereiche des Bewußtseins erforschen, die sichtbar werden, wenn das Gehirn zu wenig Sauerstoff erhält; man leidet unter Demenz, Aphasie und unter dem Zusammenbruch von Sprache und Gefühl." Und obwohl sie keine Erklärungen für den Titel anzubieten hat - "deine eigenen Schlüsse sind o.k." - oder zumindest eine Darlegung ihrer Intentionen, sprechen wir über nichts anderes als über Hickman-Katheter, machen uns vertraut mit AIDS und Herzstationen sowie langen Röhren, die in die Leistenvene eingeführt werden und entlang dunkler und hinfälliger Kanäle schließlich bis zum Schmerz selbst vorstoßen.

So funktioniert ihre Musik: Sie entfesselt Sintfluten in erstaunlich kleinem Rahmen, sie taugt aber auch zur Gesundung oder zumindest zu lindernden Eingriffen. Die akustische und emotionelle Mikrochirurgie von Vena Cava repräsentiert sogar eine Änderung gegenüber den Vorhaben des ursprünglichen Projektes. "Die Plaque Mass war spektakulär, opernhaft und sehr "griechisch" in ihren energetischen Ausbrüchen. Vena Cava ist genauer und subtiler, mikrokosmisch; sie arbeitet mit interner Beschreibung, wie in einem Song...".

Allerdings ist Vena Cava deshalb nicht weniger kontroversiell in ihrem Zugang zu Diamanda Galas grundlegenden Thematiken und wird zweifellos dieselbe Art von Feedback nach sich ziehen. "Als You Can Be Certain Of The Devil herauskam (laut The Wire die beste Platte, um ungebetene Gäste aus der Wohnung zu spielen), da nannte mich irgendein beschissener Idiot von der NME eine Terroristin, sagte, ich sei morbid und schriebe Musik mit Vorbedacht dazu, damit sie niemand hören könnte. Das ist ein grundlegendes Mißverständnis. Immer wenn ein Künstler etwas veröffentlicht, dann sehen es die Leute an und sagen, das sei der Künstler." Sie wäre dagegen in großen Schwierigkeiten, wenn sie irgendwelche Querverbindungen zwischen ihrer Musik und ihrem Geisteszustand herstellen müßte. Wie Hubert oder Jerzy Kosinski in ihren Arbeiten, so verwendet Diamanda Galas extreme Stilmittel, um extremen Bewußtseinszuständen und Gefühlen freien Lauf zu lassen, und diese zu versachlichen; zumindest was das betäubende Grauen und die Verkümmerung betrifft, welche durch die "moderne Pest" hervorgerufen werden.

Für die Antwort ihrer Künstlerkollegen auf AIDS, diese "stinkende Reptilienscheiße" Red, Hot & Blue hat sie nur angewiderte Ablehnung übrig. "Wenn ich daran denke, wie sich Rock-Stars zu Cole Porter herablassen, dann muß ich wirklich kotzen. Die Musikpresse ist dermaßen homosexuellenfeindlich, daß bloß auf diese Weise auf AIDS reagiert werden konnte, und diese Leute" - hier kriegt Annie Lennox kurz und nicht wiederzugeben ihr Fett ab - "sind so verflucht cool, daß sie nicht einmal ahnen, was diese Songs wert sind; aber so was passiert eben einem Mann wie ihm, ständig werden seine Songs von irgendwelchen Mitläufern total daneben interpretiert und veröffentlicht; vergleicht man das Arschloch Tom Waits mit Cole Porter, dann ist das so, als würde man Louis Armstrong an Al Jolsen messen." Interessant scheint, daß so, wie man bei Cole Porter hinter der eleganten Coolness die schiere Verzweiflung spürt, in Diamandas gequälten Ausbrüchen eine starke Ahnung von Erlösung zu finden ist, die sich aus Entbehrung, Martyrium und Zerbrochenheit nährt.

Es war in Afrika, wo das Blut erstmals rebellierte, und in Afrika hat der Blues seine Wurzeln. Es mag diejenigen erstaunen, die sie nicht näher kennen, aber parallel zu Vena Cava hat sie ein Album mit Blues und Gospels herausgebracht - The Singer (1992). Es mag das bisher lukrativste Projekt gewesen sein, das sie für Mute bisher gemacht hat, aber es wäre Unsinn zu behaupten, daß sie damit ihre Richtung geändert hätte. "In den letzten fünf Jahren hatte ich das Gefühl, daß es wichtig war, den Mute-Vertrag zu benützen, um Plaque Mass zu beenden." - und eine Trilogie, die Stücke wie Litanies of Satan und The Divine Punishment enthält. "Es ist die gleiche Reaktion wie bei Sun Ra, als er gerade Stücke zu spielen begonnen hatte. Was auch immer gesagt wird, so stellt es für mich keinen Wechsel dar. Ich habe diese Musik gespielt, seit ich als kleines Mädchen in der Band meines Vaters dabei war. Ich glaube an das, was Stockhausen über Improvisation gesagt hat, jedesmal wenn man etwas macht, muß man dem bis zum Schluß folgen, ohne dabei alles andere aus den Augen zu verlieren; man muß flexibel sein. Ich habe gelernt, alles zu spielen. Darum, als Musikerin, und nicht nur als Rockmusikerin, passe ich in keine Kategorie. Es amüsiert mich, aber es verbraucht mich nicht. Mich zu fragen, ob ich diese Art von Musik bewältigen kann, ist so, als fragte man Derek Bailey, ob er denn Blues spielen könnte; und das kann er verdammt gut."

The Singer ist der Beweis, ein hochprozentiger Beweis dafür, daß sie sich nicht überschätzt. Wenn man von ihrer anhaltenden Besorgtheit in "Reap What You Sow" liest, oder von der ängstlichen Freude bei der Kreuzigung in "Were You There", wenn man "Balm In Gilead" als AZT versteht, dann begreift man, daß dies alles und der apokalyptische Höhepunkt in "Let My People Go", "Be Sure That My Grave Is Kept Clean" und in "Judgement Day" mit ihrem gesamten Werk in konsistentem Zusammenhang steht.

Woher kommt diese Stimme? Es war ein eigentümlicher Zufall, als wir herausfanden, daß wir beide in Paris Cathy Berberian (in einem tollen purpurfarbenen Kleid) gesehen hatten, die dort mit letzter Konsequenz Monteverdi und Berio sang. "Ich hatte eine Art von Auseinandersetzung mit ihr. Sie behauptete, sie hätte alle jungen Sänger beeinflußt. Ich bestritt das und meinte, ich hätte sie vielleicht auch beeinflußt."

Vielleicht sollte man das einmal überprüfen. Ich erwähnte Berberians Namen, weil ich den Eindruck hatte, da wäre etwas von ihr in Diamandas Stimme; allerdings hört man auch Piaf und Bessie und Mahalia und Marianne Faithfull heraus, "Sister Morphine", was für mich immer die Quintessenz der dunklen Seite weiblicher vokaler Tradition war; von Billie Holiday andererseits war keine Spur. "Ja, das stimmt. Mein Bruder hatte eine große Plattensammlung und jede Menge Aufnahmen von Esther Phillips und Carmen MacRae, aber kaum etwas von Billie Holiday."

Das wird klar auf The Singer, jede Zeile zielt genau auf die dunklen Räume unterhalb des Herzens. Sie singt von der endgültigen Verderbtheit des menschlichen Geistes und setzt sich ehrlich damit auseinander; sie singt von einer Tradition, die ihre Unschuld nicht plakativ präsentiert; sie ist, wie Lilith, vielleicht mehr dämonische Heilerin als süße Betrügerin.

Das Gespräch führte Brian Morton für das englische Musikmagazin "The Wire" anläßlich der Präsentation der LP "The Singer".

Discographie:

  • "Masque Of The Red Death" (Mute)
  • "The Devine Punishment" (Mute)
  • "Saint Of The Pit" (Mute)
  • "You Must Be Certain Of The Devil" (Mute)"The Singer" (Mute)





ELISABETH SCHIMANA
Stimmbänder treffen Magnetbänder




"Verschiedenes"

"Ich bräuchte eine Telefonzelle. Das hat einen technischen Grund. Ich arbeite nämlich gerne mit Delays, das heißt, daß ich live auf der Bühne Strukturen aufbaue, die man normalerweise nur auf Bandmaschine zusammenbringt - Spur/Spur/Spur. Ich will das aber live umsetzen. Dabei habe ich das Problem, wenn ich mit dem Mikrophon arbeite, daß - wenn ich zum Beispiel mit rhythmischen Strukturen arbeite - mir alles wieder durch das Mikrophon hineinkommt und mir alles zusammenhaut. Wenn ich also abgeschirmt mit dem Mikrophon irgendwo stehen könnte - eben in einer Telefonzelle- so daß das, was über den Raum kommt nicht mehr dazukommt, dann kann es klappen. Das wäre ein Teil des Programms. Im anderen Teil stehe ich halt außerhalb der Telefonzelle. Mein Techniker, der Thomas, würde mir das Mikrophon in den Telefonhörer einbauen. Das fände ich zudem auch recht witzig."

Wozu brauchst Du so lange Delays?
"In der Länge, wie ich die Delays brauche - etwa eine Minute - das gibt es kaum. Daher die Idee, mit einem 4-Spur-Kassettenrekorder und einem Endlosband zu arbeiten, auf dem ich 4 getrennte Spuren habe, auf die ich dann eine Minute etwas draufgeben kann und dann singe ich dazu/dazu/dazu."

Was ist auf den Zuspielbändern zu hören?
"Das sind selbstgemachte Sachen von mir. Ich komme ja von der Elektroakustik. Ich arbeite sehr viel mit Geräuschen, und davon gibt es ja jede Menge. Im Speziellen werde ich zum Beispiel eine 5-Minuten-Sequenz mit Ton gestalten, also zerbrochene Tonscherben, mit denen gekratzt wird, die wieder zerbrochen werden. Diese Geräusche habe ich dann am Computer bearbeitet, und so werden sie zugespielt, und dazu kommt dann erst die Stimme. Ein Grundgedanke meiner Arbeit ist es eben, elektronisch bearbeitete Klänge zu verwenden und dann eben die Stimme, die ich eigentlich sehr wenig verfremde, als Gegenstück dazu zu setzen. Die Stimme ist ja eigentlich etwas ganz Bodenständiges, ein Instrument, das jeder mit sich herumträgt, und andererseits interessiert mich eben auch die ganze elektronische Welt und das was die Technik derzeit bietet. Und aus dieser Spannung heraus entstehen meine Sachen."

Wie bist Du überhaupt zum Singen gekommen?
Schon in der Volksschule war ich im Chor, wie halt fast jeder. Dann gab es eine lange Pause, das war so meine Hippiezeit. Erst in Wien - so um 1978 - fand ich eine alte Frau, meine erste klassische Gesangslehrerin, die ist aber bald gestorben. Dann fand ich wieder eine alte Frau, bei der habe ich stimmlich am meisten gelernt. Als sie mich unterrichtet hat, war sie schon 92 Jahre alt, aber eine tolle Frau. Gleichzeitig habe ich mich sehr mit dem Körper auseinandergesetzt, bin über dieses Training auch auf die Stimme gekommen. Dann fiel mir plötzlich ein Skriptum aus Amerika in die Hände von einer Frau namens Bonnie Tyler, die sich sehr auf die anatomischen Zusammenhänge der Stimme gestürzt hat. Damit habe ich sehr lange gearbeitet. Und zwar arbeitet sie vor allem mit dem Kehlkopf und dem was da drinnen passiert. Beim Singen ist es wichtig, daß man sich diesen Stimmapparat vorstellt."

Und wie kamst Du zur Elektroakustik?
"Ich komme eigentlich aus der Improvisationsszene. Mich hat es immer wieder geärgert, daß ich mich, wenn ich mit Leuten zusammen gespielt habe, nicht vermitteln konnte. Ich hatte bestimmte Klangvorstellungen, aber es war mir nicht möglich, mich zu vermitteln. Und seit ich das Institut für Elektroakustik in Wien besucht hatte, geht das. Das war eigentlich ein Volltreffer. Ich kann jetzt im Studio arbeiten, mache meine eigenen Sachen selbst. Allerdings arbeite ich in der letzten Zeit immer mit einem Techniker zusammen, denn mein Hauptanliegen ist die Komposition, und man kann sich ja nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren. Aber ich kann mich jetzt vermitteln, ich kann alles genau sagen, was ich will und das funktioniert bestens."

Im Vorjahr erschien Deine erste Schallplatte "Dot" auf Extraplatte.
Das war eine Studioarbeit, und die Idee dazu stammt vom gebürtigen Wattener Gerold Huber, der inzwischen gestorben ist. Ich wählte Fragmente aus dem ersten und zweiten Band des "Wohltemperierten Klaviers" von Johann Sebastian Bach und spielte sie den Sängern über Kopfhörer ein. Das aufgenommene Stimm- und Klaviermaterial, welches im Lauf des Stückes immer mehr und mehr verfremdet wird, bildet die Grundlage für die Komposition "Bach". "Tot zu sein..." wurde in einem der Gasometer in Wien mit einem Laienchor aufgenommen. Es sind dies Bearbeitungen des Volksliedes "Froh zu sein bedarf es wenig, nur wer froh ist, ist ein König". "A-LE-LU-JA" ist eine Komposition für Tonband und Stimme. Die feststehende Struktur des Tonbandes bildet die Basis für die Stimmimprovisation. Dieses Stück ist im Gegensatz zur reinen Tonbandkomposition "Bach" auch als Live-Performance gedacht."

Du sagst nicht Konzert zu Deinen Auftritten, sondern Performance.< Weshalb?
"Vielleicht, weil eine Performance etwas einmaliges ist, sich nicht wiederholen läßt. Konzerte werden immer wieder wiederholt. Und das habe ich noch nie gemacht. Alles, was ich bisher gemacht habe, war einzigartig."

Das Gespräch mit Elisabeth Schimana führte Christoph Moser.





OBERTONCHOR DÜSSELDORF




OBERTONCHOR DÜSSELDORF Dieser wurde 1985 von Christian Bollmann ins Leben gerufen und trat anläßlich der Konzertproduktion "Neue meditative Musik" zusammen mit dem MEMORY RAINBOW ENSEMBLE erstmals an die Öffentlichkeit. Aufgrund der ungewöhnlichen Resonanz stellte der Chor 1986 sein Programm mit Kompositionen von R. Laneri und Chr. Bollmann auf einer Konzerttournee durch Deutschland in 16 Kirchen und Museen von ausgesuchter Architektur vor.
1987 folgten Einladungen auf das "Vocal Heroes Festival" Duisburg, den evangelischen Kirchentag in Frankfurt und die Europäischen Chortage in Passau (Begegnung mit David Hykes).

1988 reiste das Ensemble mit dem Klangwelten-Festival erneut durch Deutschland. Stationen waren unter anderem die Philharmonie Köln, die Tonhalle Düsseldorf und die Liederhalle Stuttgart.
Im Sommer desselben Jahres wurden die Tonaufnahmen für die CD-Produktion "Rise My Soul" in den von Prof. E. Heerich entworfenen Pavillions des Museums INSEL HOMBROICH bei Neuss eingespielt und von Network über Zweitausendeins veröffentlicht.

Neben Obertongesang in unterschiedlichsten Ausprägungen formen sie rythmisch-melodische Minimalfiguren und Melodien in gregorianischem Ductus, u.a. auch zu Texten von Hazrat Inayat Khan eine "neue meditative Musik". Tibetanische Hörner, Klangschalen, Monochord und Flöte runden das vorwiegend durch Stimmen geprägte Klangbild harmonisch ab.
1989 schrieb Christian Bollmann neben seiner ausgedehnten Seminararbeit die Komposition "SAI YA OM" für Obertonchor und Klangerzeuger. Eine Komposition, die im Unterschied zu den vorher entstandenen Werken nur mit einer großen Besetzung möglich ist. Sie integriert archaische responsoriale Formen (Wechselgänge), unterschiedliche Obertontechniken sowie Mantren des Vokalkreises SAI YA OM bzw. MUOA IEÄA AOUM.
Zur Realisierung wurde das "Oberton-Chor-Projekt 90" ins Leben gerufen, das aus 18 Sängern und Sängerinnen besteht, mit Rose Schell und Christian Bollmann als Solisten, und somit einen völlig neuen Klangkörper darstellt. Beim Festival VOICES! war der Obertonchor Düsseldorf in 8-köpfiger Besetzung (4 Frauen, 4 Männer) zu hören: Rose Schell, Elke Elbe, Karin Nowazyk, Christa Stein, Christoph Schumacher, Frank Baier, Dietmar Ulbrich und Christian Bollmann (Komposition und Leitung).