VOICES!
DAS STIMMENFESTIVAL
KULTURZENTRUM - UTOPIA - CULTURAL CENTER
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VOICES! 1993
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IST DER MÄNNERCHOR TOT?
Ende oder Zukunft des Männerchors
"Der Männerchor ist tot! Es lebe der Männerchor!"
In Abwandlung dieses bekannten Ausspruches: "Der König ist tot! Es lebe der König!" kann man auch für den heutigen Männerchor einiges ableiten. Im deutschsprachigen Bereich geht der Männerchor nicht nur zahlenmäßig gegenüber anderen Gattungen wie Orchester oder gemischtem Chor stark zurück, es stirbt auch allmählich die Art des Singens und des früher Gesungenen aus. So wie das Leben des alten Königs zu Ende war, stirbt auch der alte Männerchor. Aber der König gab seinem Sohn und Nachfolger das Leben - er ist ihm sehr ähnlich. So ist es heute beim Männerchor. Bis weit hinein in die Neuzeit war es nur den Männern erlaubt, in der Kirche zu singen ("Mulieres tacent in ecclesiae!" - Die Frauen haben in der Kirche zu schweigen!). Auch im weltlichen Bereich gab es in der Vokalpolyphonie des 16. und 17. Jahrhunderts "voces aequales", wobei die höheren Stimmen von Falsettisten ausgeführt wurden. In der Oper brauchte man zur Darstellung des Gefolges der Soldaten etc. ab dem 17. Jahrhundert Männerchöre, aber auch in geselligen Männerrunden begann man im 18 und 19. Jahrhundert das Lied zu pflegen. Michael Haydn (1737 - 1806), Carl Friedrich Zelter (1758 - 1832) und H.G. Nägeli (1773 - 1836) schufen eine Reihe von Kompositionen für Männerchöre. Auf ein künstlerisch hohes Niveau hob diese Gattung Franz Schubert (1797 - 1828), der zahlreiche Werke mit und ohne Klavierbegleitung schuf. Der Männerchor wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts auch ein Träger des neuerwachten vaterländischen Empfindens, das aber später extrem mißbraucht wurde. Einen zweiten Impuls für die Männerchor-Bewegung gab die Sammlung von Volksliedern und deren Bearbeitung für Männerchor. Friedrich Silcher (1789 - 1860) sammelte ab 1826 Volkslieder und setzte sie für vier Männerstimmen. Sie werden auch heute noch gerne gesungen. Auch in alpenländischen Gebieten kann man die beiden Arten des Männerchors, nämlich der bürgerlichen Liedertafel und des volkstümlichen Männerviergesangs, beobachten, wobei letzterem durch den Einfluß der meist ins alpenländisch-kitschige abschweifenden sogenannten "Nationalsänger", die die ganze Welt mit Tiroler Klischee-Liedern beglückten, kein guter Dienst erwiesen wurde. In den Alpenländern erhielt sich der Volkslied-Männerchor bis heute. Besonders in Tirol ist man bemüht, überlieferte alpenländische Lieder in schlichtem Chorsatz bei den verschiedensten Gelegenheiten zu singen. Das Volkslied wird im Jahresablauf, bei festlichen Anlässen, Sängertreffen und im religiösen Leben "gebraucht" und stirbt daher nicht aus. 1. gewünscht und gebraucht wird, Siegfried Singer
MÜHLAUER SÄNGERVEREINIGUNG
Ferdinand Csajka (1894 - 1954) gründete 1920 die Sängervereinigung Mühlau mit dem Bestreben, das überlieferte Volkslied auch im Chorgesang zu pflegen. Nicht ohne Stolz können die Mühlauer Sänger mittlerweile auf mehr als 70 Jahre Chortätigkeit zurückblicken und sich auf ein musikalisches Repertoire stützen, das geprägt ist durch eine sorgfältige Auswahl der jeweiligen Chorleiter, und aus zahlreichen überlieferten Volkssätzen, Originalkompositionen "Alter Meister" und vielen Liedsätzen besteht, von Josef Pöll, Franz Josef Sigmund, Sepp Thaler, Willi Homolka bis zu Siegfried Singer, der seit 1980 Chorleiter der Mühlauer Sänger ist. Mit Auftritten im In- und Ausland, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen, Schallplattenproduktionen und dem jährlichen Mühlauer Sängerball erlangten sie einen Bekanntheitsgrad, der über die Grenzen Tirols hinaus reicht, und zählen heute sicher zu den besten Interpreten des alpenländischen Volksliedes.
MIESKUORO HUUTAJAT
Am 6. Dezember, dem finnischen Unabhängigkeitstag, betraten 20 Männer aus Oulo unter der Leitung von Petri Sirviö die Bühne. In schwarze Anzüge gekleidet "schrieen" sie die beliebtesten finnischen Volkslieder im Rahmen eines Unabhängigkeitsballes. MIESKUORO HUUTAJAT (übersetzt: "Chor der schreienden Männer"), wurde in Folge auf 30 Männer erweitert und das Konzept ausgebaut. Ihr Repertoire enthält vor allem Volkslieder, Kinderlieder und Hymnen. Melodie und Text werden bearbeitet und neu arrangiert. Der Charakter der bearbeiteten Stücke wird vor allem durch die komplexen, rhythmischen Strukturen wesentlich bestimmt. 1988 erschien ihre erst EP "Pohjoinen kotimaamme", eine Sammlung finnischer Volkslieder. Sechs Nationalhymnen (von Finnland, Schweden, Norwegen, Deutschland, USA und der früheren UdSSR) wurden auf ihrer zweiten EP "Six National Anthems" veröffentlicht.
Die erste Phase von MIESKUORO HUUTAJAT ist auf der EP "Pohjoinen kotimaamme" (Palophone 777-1385536) dokumentiert, die 1988 Nummer 8 der finnischen Single-Charts erreichte. Diese EP enthält in erster Linie finnische Volkslieder. Ab diesem Zeitpunkt an erweiterte der Chor sein Repertoire auf Arbeits- und Kinderlieder und Hymnen. Sechs Nationalhymnen (Finnland, Schweden, Norwegen, Deutschland, USA und die frühere UdSSR) wurden auf ihrer zweiten EP "Six National Anthems" (PIS 283) veröffentlicht. MIESKUORO HUUTAJAT traten erstmals in Österreich auf und erarbeiteten für Ihr Innsbruck-Gastspiel eine ihrem künstlerischen Konzept entsprechende Interpretation von Tiroler Volksliedern und der Österreichischen Hymne.
MAGDA VOGEL & BRIGITTE SCHÄR
Improvisierte Gesänge a capella
Seit 1992 arbeiten Brigitte Schär und Magda Vogel als "improvisierende Vokalistinnen der avantgardistischen Art" zusammen. Ihrem stimmlichen Spektrum sind keine Grenzen gesetzt. Die zwei Sängerinnen erlauben sich, wonach immer sie Lust haben und wonach ihnen zu Mute ist und beschreiten so - sich in ihrer Verschiedenartigkeit ergänzend - wundersame Wege der Musik, solistisch und im Duo. "Eine Stunde taucht das Publikum in improvisierte Musik. Wie festgeschraubt stehen die beiden Sängerinnen da, bewegen ihre hellen Hände und Köpfe, manchmal auch den Körper, je nach Temperament. Sofort kommen die einzelnen Ausdrucksarten und -vorlieben der zwei Vokalistinnen zutage. Die schwarz- weiße Kleidung, gepaart mit der Gestik, erinnert entfernt an den Illusionisten im Zirkus, der mit seinen Händen das Publikum in seinen Bann zu ziehen vermag. Die zwei Sängerinnen erreichen dasselbe mit ihren Stimmen." (Zitat "Ostschweiz")
Die Beschreibung der Art der Musik, die diese Künstlerinnen eigen macht, ist so schwierig wie die Faszination, die von der Performance selbst ausgeht. Von den tiefsten Baßtönen bis zu schrillen Höhen weit über der Skala eines "singbaren" Tones, von leisen Knurr- oder Zischlauten bis hin zu nervenzersägend grellen Dissonanzen reicht das Repertoire der Künstlerinnen. Ausgehend von der Vokalformation "Eisgesänge" (1988 - 1992) hat sich die musikalische Zusammenarbeit der beiden Schweizer Sängerinnen kontinuierlich weiterentwickelt. Im Oktober 1988 wurde in Zürich im Rahmen der Koprodukte die erste Komposition mit dem Titel "Eisgesänge, auf die Spitze getrieben- improvisierte Musik für drei Frauenstimmen a capella" uraufgeführt. "Ménage à trois", die zweite Komposition, folgte im Dezember 1989. "New Voices" war die letzte Produktion in der Trio-Formation. Brigitte Schär Magda Vogel
YILDIZ IBRAHIMOVA
Zwischen Tradition und Avantgarde
Mit einem Stimmumfang von vier Oktaven versucht die ausgebildete Opernsängerin eine Verbindung von bulgarisch- türkischer Volksmusik mit Jazz, Avantgarde und frei improvisierter Musik zu schaffen. Nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Bulgarischen Rundfunk (1978) folgten Einladungen zu internationalen Festivals, die sie bis nach Japan und Mexiko führten.
Als Solokünstlerin arbeitet sie u.a. mit Antoine Herve, Francois und Luis Montin, Ives Robert, Anatoli Vapirov, Peter Kowald, Urs Leimgruber zusammen. Neben der Mitarbeit beim Bulgarischen Radio und Fernsehen nimmt sie an zahlreichen Projekten des "Experimentellen Studios für Elektronische Musik und Computermusik" teil. Discographie:
DER TRALLALERO
Urbane Folklore aus Genua
Der folgende Artikel ist (gekürzt) dem Begleittext zur LP "Canti popolari di Ligura. La polivocalita valligiana. Il Trallalero" entnommen, herausgegeben und verfaßt von Edward Neill (Musikethnologe). Übersetzung: Brigitte Herdin
Grundsätzlich läßt sich klar zwischen einer urbanen Volksmusik und einer Volksmusik aus den Tälern unterscheiden. Erstere ist wesentlich lebendiger und knapper, letztere hat einen natürlichen Hang zur Verlangsamung der Tempi und zur monovokalen Balladel. Diese zwei unterschiedlichen Grundhaltungen erklären sich aus den unterschiedlichen Wesenszügen der Bewohner des maritimen Liguriens und des bäuerlichen Liguriens - eine Unterscheidung, die schon in Vorzeiten existierte. (Der Autor des Artikels unterscheidet geographisch zwischen dem maritimen Ligurien, womit hier insbesondere die Provinzhauptstadt Genua gemeint ist, und dem bäuerlichen Ligurien, worunter die Täler des unmittelbaren Hinterlandes zu verstehen sind. Anm.d.Übersetzers). Der Trallalero besteht aus fünf Stimmen: Falsett (cuntrètu), Tenor (primmu), Bariton (secundo oder cuntrubassu), Gitarre (chitarra; wobei hier nicht das Instrument selbst gespielt, sondern sein Klang mit dem gegen die Lippen gedrückten Handrücken nachgeahmt wird) und mindestens drei Baßstimmen. Es singen also mindestens sieben Personen, die in einem geschlossenen Kreis Aufstellung nehmen (wie bei den Chören der Cantaèle und Cantégue), sodaß sie einander sehen und ihre Einsätze koordinieren können. Den Mittelpunkt eines solchen Stimmenkreises bildet nicht selten ein Tisch, auf dem unzählige Flaschen Wein bereitstehen, der den Gesang anregen und Hemmungen abbauen soll. La Giovane Erstmals außerhalb Italiens wird das 1989 gegründete Vokalensemble La Giovane ("Die Jungen") auftreten. Die zehn Sänger von La Giovane kommen aus Mignanego, einem Ort im Val Polcevera bei Genua und sind nicht nur wegen ihres Gründungsjahres als "jung" zu bezeichnen, sondern auch aufgrund ihres Durchschnittsalters. Dies ist vielleicht deshalb interessant und daher hervorzuheben, weil in den wenigen noch verbliebenen Gruppen, die den Trallalero singen, eindeutig alte Männer überwiegen. Derzeit arbeitet die Gruppe an einer Musikkassette und einer CD zur Geschichte des Trallalero.
SARDEGNA - QUASI UN CONTINENTE
Sardinien - ein Kontinent
Sardinien - ein Kontinent. Diese oft gehörte Bezeichnung für die große Insel im Mittelmeer bekommt nicht nur dann ihren tieferen Sinn, wenn man weiß, daß dort Sardisch gesprochen wird, und Italienisch als offizielle Staatssprache erst an zweiter Stelle steht. Auch die sardische Kultur behauptet sich selbst im Zeitalter der Technologisierung mit großer Vehemenz.
Der Tenore Gesang Aus: Bernard Lortat-Jacob, Polyphonies des Sardaigne, REMUNNU 'E LOCU Im Laufe ihrer zwanzigjährigen Tätigkeit (seit 1974) haben die Tenores von Bitti (Region Nuoro) nicht nur auf fast jeder Piazza Sardiniens gesungen; sondern auch zahlreiche Tourneen in Europa, den USA, Südamerika und Australien unternommen. Sechs Jahre hintereinander gewannen sie den ersten Preis des "Festival del Redentore", Kategorie Canti a Tenores und wurden 1992 mit den höchsten Auszeichnungen, die Sardinien zu vergeben hat, geehrt- mit dem Preis "Maestri del Folklore", den der Tourismusverband von Nuoro vergibt und dem "Premio Sardegna", den viele als "kleinen sardischen Nobelpreis" bezeichnen. 5 MC's, 3 LP's und 2 CD's (letztere sind noch nicht im Handel) dokumentieren das künstlerische Schaffen von Remunnu 'e Locu. Die Mitglieder:
TAMIA & PIERRE FAVRE
Voice & Percussion
Tamia wurde 1947 in Frankreich geboren. Mit vier Jahren erhielt sie Klavierunterricht von ihrer Mutter, später studierte sie Musik und klassischen Gesang, bevor sie sich 1972 für Jazz und improvisierte Musik zu interessieren begann.
1978 veröffentlichte sie die Platte "Solo", 1981 erschien "Senza Tempo" Mit einer Stimme, die vier Oktaven umfaßt, evoziert Tamia eine Vielzahl instrumentaler Klangfarben und eine Art des Singens, die von außerordentlicher Musikalität, perfekter Technik und poetischer Eingebung erfüllt ist. Pierre Favre, in der Schweiz geboren, studierte Komposition und Klavier und war zunächst einer der führenden Musiker im europäischen Free Jazz, bevor er sich einer mehr melodiös orientierten Spielweise zuwandte. Dies führte zu einer Veränderung seines Instrumentariums, zu einer Erweiterung der melodischen Möglichkeiten des konventionellen Schlagzeugs. Ausgedehnte Tourneen und sein Interesse für andere Musikkulturen führten Pierre Favre um die ganze Welt. Er arbeitete mit afrikanischen, indischen und brasilianischen Perkussionisten zusammen. 1986 wurde seine Komposition "Metaphora", ein Stück für Solo-Perkussion und Orchester uraufgeführt. Zusammen mit Tänzern und Choreographen schrieb er Musik für Theater und Film."Pierre Favre macht niemals Lärm, alles was er berührt, verwandelt er in Melodie und Rhythmus. Diese Verbindung von Stimme und Klang, die subtile Eigenart zweier Künstlerpersönlichkeiten findet nicht ihresgleichen, sie schaffen in perfektem Zusammenspiel eine Musik von innerer Konsequenz und lautmalerischer Vielseitigkeit, wie sie selten zu hören ist." (Neue Züricher Zeitung) Discographie: Tamia: Tamia & Pierre Favre In Zusammenarbeit mit dem Französischen Kulturinstitut
LAUREN NEWTON & GRACE YOON
Die Sprache einer Sängerin und einer Performerin
Auf der Basis einer umfassenden Gesangsausbildung mit dem Schwerpunkt Neue Musik entwickelte die gebürtige Amerikanerin Lauren Newton einen instrumental / perkussiv orientierten Gesangsstil, der in seiner technischen Perfektion, der stimmlichen Dimensionierung, aber auch durch die Phantasie, mit der sie die musikalischen Materialien überraschend kombiniert, überzeugt und fasziniert. Mit Aufnahmen von "Vocal Summit", und vor allem als herausragende solistische Stimme des Vienna Art Orchestra (dem sie 10 Jahre lang angehörte) bekannt geworden, zählt sie heute zu den wichtigsten Vokalstimmen des Jazz und der neuen Musik.
Die koreanische Performance-Künstlerin Grace Yoon gilt als Spezialistin für vielfältige Klangrituale und wird mitunter als "reisende Performerin zwischen Europa, dem Orient und Mittelamerika" beschrieben. Grace Yoon, in Pusan geboren, zog 1966 in die USA und lebt seit 1975 in Deutschland. Sie studierte Kunst und Performance an der London Art Academy, schrieb Klanghörspiele für den Rundfunk und wirkte als Solo-Performerin in zahlreichen internationalen Theater-, Film- und Musikproduktionen mit. Für VOICES! konzipieren Lauren Newton und Grace Yoon ein eigenes Stück - SUCHT - eine abstrakte Stimm-Performance, die im grenzüberschreitenden Freiraum von Stimme, Bild und Bewegung existiert. Discographie:
Der folgende Auszug aus einem Interview mit Lauren Newton, erschien im Jazz-Podium, Nr. 7/8 Juli/August 1990. Das Gespräch führte Kascha Kumpf:
Ich habe mich nie darum gekümmert, ob ich weiß bin oder schwarz. Denn ich glaube, daß die Musik wirklich eine universelle Sprache ist, besonders so wie ich sie betreibe. Da sollte es überhaupt keine Grenzen geben, egal wo sie herkommt, sei es von Afrika oder vom Nordpol. Die musikalischen Ideen, die ich realisiere, dienen der Freude oder wenigstens der unterbewußten oder bewußten Stimulation - so kann man es vielleicht auf den Punkt bringen. Ich möchte, daß die Leute auf anderen Wegen wandeln und auf neue Gedankengänge kommen, wenn sie meiner Musik lauschen. Das ist natürlich keine Unterhaltungsmusik im Sinne amerikanischen Entertainments. Andererseits fühlen sich viele Leute unterhalten durch meine visuell-szenische Gestik, die ich in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut habe. Ich spreche hier hauptsächlich von meiner Trio-Musik, denn hier kann ich mich künstlerisch am besten verwirklichen. Wie sieht Ihrer Meinung nach die zukünftige Entwicklung des kreativen Musizierens aus? Der heutige Jazz fusioniert ja mit vielen anderen Musikströmungen. Tatsächlich ist Jazz ein strapazierter Begriff. Die Leute neigen dazu, vorgefaßte Meinungen zu zementieren von dem, was Jazz angeblich zu sein hat. Für mich war Jazz immer eine Art von musikalischer Entwicklung und von Experiment - und auch etwas Radikales. Nun ist "Jazz" zu einem Modewort geworden: da gibt es Jazz im Rock, Jazz im Pop. Jazz in fast jeder Musikart, nur weil es eben "in" ist. Ich betrachte die Musik, die ich mache, nicht nur als Jazz. Sie hat gewiß einige Elemente davon, aber ich betrachte sie mehr als eine Musik der Zeit. ..... Improvisation ist meine Stärke, und ich ziehe vor, das weiterhin zu machen, was ich gegenwärtig tue, auch wenn dies kein Millionenpublikum hat ..... Welche speziellen künstlerischen Erfahrungen haben Sie durch Projekte wie "Vocal Summit" und "Voc-4" gewonnen? Künstlerische Erfahrungen - Es ist schwierig, genau zu sagen, was dies überhaupt ist. Aber wenn man mit anderen Leuten zusammenarbeitet, die das gleiche Instrument spielen, die mit demselben Instrument arbeiten, hat man eine breite gemeinsame Basis. Man kann Erfahrungen austauschen, ohne daß man - wie in meinem Fall - singt: nur durch lange Diskussionen, und das ist für mich eine wertvolle Erfahrung. Technische Dinge ..... Ich bin mir da nicht sicher - außer daß ich lernen kann, wie man sich auf der Bühne präsentiert, wie man mit dem Publikum und den musikalischen Partnern kommuniziert. Ich glaube, in dieser Umgebung habe ich mehr gelernt als irgendwo anders. Wie setzen Sie die Elektronik in Ihrer Musik ein? Die einzigen elektronischen Effekte, die ich versucht habe einzusetzen, weil ich dachte, sie wären interessant, waren Nachhall und natürlich ein künstliches Echo, außerdem direkt daran angrenzende Soundmutationen und ein "Chor-Effekt", der meine Stimme sozusagen verdoppelte. Und schließlich ein unheimlicher, fremdartiger Effekt, jedoch nur bei ganz wenigen Gelegenheiten. Ansonsten halte ich mich von der Elektronik so weit wie möglich zurück, weil ich mehr Freude daran habe, all diese Dinge mit meiner "nackten" Stimme und dem bloßen Mikrophon zu versuchen. Soll Ihr Einsatz von (quietschendem und scharrendem) Plastikspielzeug einen Kontrapunkt zur technisierten Welt versinnbildlichen? Ja, so kann man das ganz genau ausdrücken. Jeder von uns wuchs mit derartigen Spielsachen auf, die meisten Leute können sich daran gut erinnern. Wenn sie etwa selbst keine Geräusche erzeugenden Spielsachen hatten, dann machten sie eben selbst die dazugehörenden Geräusche, um mehr Freude am Spiel zu haben. Wenn man einen kleinen "stummen" Lastwagen hat und diesen auf dem Fußboden schiebt, macht man halt selbst "trrrmmm...". So betrachte ich die Spielzeuge als ein Merkmal, das wir vergessen und verdrängt haben: den Klang des täglichen Lebens zu imitieren und Sachen zu tun, die wir mit unserer Stimme in der Kindheit praktizierten. Mit welchem Berufsziel haben Sie studiert? Haben Sie bereits konkret daran gedacht, im avancierten Jazz eine Profikarriere zu machen? Nein, ich studierte ursprünglich Klassik und die Musik des 20. Jahrhunderts. Ich bevorzugte moderne Stile, weil sie experimenteller waren. Damals, also vor rund 12 Jahren, gab es kaum eine Möglichkeit, Jazz zu studieren oder viel auf diesem Sektor zu tun. So entstand bei mir alles aus meinem Experimentiertrieb heraus innerhalb der verschiedenen Ensembles, bei denen ich mitwirkte. Es entwickelte sich sehr langsam und stetig. Weil zu jener Zeit außer Jeanne Lee und Urzula Dudziak kaum Sängerinnen da waren, die wirklich neue Dinge schufen, hatte ich auch niemanden, den ich kopieren konnte. Ich mußte meine eigene Sprache entwickeln. Und der Entwicklungsprozeß geht weiter und weiter .....
JODELN
Wo liegen die Ursprünge?
Erst seit dem späten 18. Jahrhundert ist das Wort "Jodeln" bekannt und auch die Sache selber, wie wir sie heute kennen, wird nicht viel älter sein.
Ähnliche Phänomene aber führen uns weit in geschichtliche Tiefen und sind auf der ganzen Welt verbreitet: Singen auf Silben ohne Wortbedeutung mit ausgeprägtem Registerwechsel zwischen Kopfstimme und Bruststimme. Wo liegen die Ursprünge? Es ist Freiluftmusik, verbunden mit Arbeit und Kult. Bei vielen Hirtenvölkern gibt es die schrillen Schreie, mit denen man sich über weite Entfernungen verständigt, und mit denen man vor allem auch die Tiere ruft. Die Jodlersilben könnten eine orphische Tiersprache sein, oder Reste einer frühgeschichtlichen Sprachentwicklung. Viehlockrufe, wie sie in Österreich und Skandinavien aufgezeichnet worden sind, beginnen immer ganz kopfig in hoher Lage und springen dann ins warme, mütterliche Brustregister. Die Tiere spitzen die Ohren und eilen herbei, wie von Leuten mit einschlägiger Erfahrung (Sennerinnen, Hirten und Zirkusdirektoren) glaubwürdig versichert wird. Tatsächlich waren es vor allem die Tiroler Nationalsänger, die von dieser Zeit an das Jodeln in seiner österreichischen Variante weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus bis nach Amerika bekannt gemacht haben. Es ist inzwischen zu einer Kunstform geworden und nicht mehr an Hirtenkultur und Almleben gebunden, eher ans Wirtshaus. "Dudeln", wie die Wiener sagen, ist auch eine Nachahmung der Instrumentalmusik und entwickelt eine reiche und kunstvolle Mehrstimmigkeit. Hauptverbreitungsgebiet ist in Österreich die Obersteiermark mit Ausstrahlungen ins niederösterreichische Schneeberggebiet und bis Wien, ins Salzkammergut und die Enns entlang ins Salzburgische. Gerlinde Haid
HOCHFELLNER DREIGESANG
Zum Hochfellner Dreigesang gehören drei Geschwister aus Bad Mitterndorf im Steirischen Salzkammergut: Cäcilia, verheiratete Hillbrand, Versicherungsangestellte, Jakob, kaufmännischer Angestellter, und Josef, Sägemeister. Sie singen von Kindheit an gemeinsam das Repertoire, das sie aus der Tradition des steirischen Salzkammergutes übernommen haben, also hauptsächlich Almlieder und Jodler, bereichert durch vieles, was ihnen gefällt und was in den von Rundfunk und Schallplatten geprägten Zeit "in der Luft" liegt. Die Stimmführung ihrer Jodler ist manchmal höchst kompliziert, wie es in der Volksmusik sonst kaum vorkommt. Die deutliche Registertrennung läßt die Konturen der Melodien hervortreten und gehört zum Spiel mit den verschiedenen Lagen und Zusammenklängen.
TELFER DREIGESANG
Der Telfer Dreigesang besteht seit 1975. Ursprünglich ein Männerdreigesang und nach dem Ausscheiden des 1. Tenors einige Zeit als Duo formiert, singen und musizieren Martha Mauracher (Hausfrau, 1. Stimme), Josef Strolz (Pensionist, 2. Stimme) und Peter Reitmeir (Musikerzieher, 3. Stimme und Harfenbegleitung) seit 1988 in dieser Besetzung. Hauptanliegen der Gruppe ist die Pflege des überlieferten Tiroler Volksliedes und des Jodlers, wobei im besonderen auf traditionelle Singweise, die Schlichtheit und Natürlichkeit des Vortrages Wert gelegt wird. In erster Linie singt der Telfer Dreigesang zur eigenen Freude, gelegentlich treten sie bei Musikantentreffen oder ähnlichen Anlässen auf.
DER JODEL IN DER SCHWEIZ
Chueraiheli, Gaisslä-chlepfä und Jüüzli
In der Schweiz ist der Jodel hauptsächlich auf der Alpennordseite verbreitet. Er ist nur wenig in die Welsche Schweiz eingedrungen (Freiburger und Waadtländer Alpen) und ist somit vor allem eine Kunst der deutschsprachigen Gebiete. Tatsache ist, daß Massenmedien und Schallplattenindustrie fast ausschließlich den polierten Jodel der Jodler-Klubs präsentieren. Diejenigen Leute, die den Jodel in traditioneller Art pflegen, weichen oft einem Werturteil aus und begnügen sich mit der lakonischen Formel: "Es ist nicht das gleiche...". Einige hingegen kritisieren in mehr offener Weise die Jodler-Klubs und ihr Quasi-Monopol als offizielle Vertreter des Jodels im kulturellen Leben der Schweiz.
Der "Juuz" im Muotatal Die Einheimischen des Muotatales im Kanton Schwyz (Zentralschweiz) hören es nicht gerne, wenn man als Jodel das bezeichnet, was sie selber Juuz oder in der Diminutivform Jüüzli nennen. Es ist hier nötig, daran zu erinnern, daß in den geschriebenen Quellen aus Österreich und der Schweiz das Wort "jodeln" erst am Anfang des 19. Jahrhunderts das ältere Wort "jolen" ersetzt, das oft in Zusammenhang mit "jauchzen" oder "juchzen" gebracht wurde. Im Muotatal bedeutet dieses letztere Wort - in der Dialektform juuzä - zur gleichen Zeit das Ausstoßen von Juchschreien und die Singart, die man heute allgemein als Jodel bezeichnet. Früher war der Juuz mit der Tätigkeit des Bauern verbunden. Die Männer juuzten, um die Kühe zum Melken herbei zu locken, während des Melkens im Stall oder draußen auf der Alp, beim Grasmähen, beim Holztransport usw.. Die Frauen juuzten ebenfalls bei der Arbeit auf dem Bauernhof oder in der Küche. Am Abend juuzte man manchmal auf der Bank vor dem Haus, bei Familienzusammenkünften, bei Tanzabenden (Schloffätänz) oder im Wirtshaus. Man konnte auch etwa die Nachtbuebä auf dem Weg zu einem von jungen Mädchen bewohnten Bauernhof hören. Heute, so betont man allgemein, wird viel weniger gejuuzt als früher. Text (gekürz) entnommen aus dem Begleittext der CD "Jüüzli". Jodel aus dem Muotatal, Schweiz, CDM LE CHANT DU MONDE LDX 27 47 16, herausgegeben von Hugo Zemp (Musikethnologe, Paris). DOMINI MARTY CHRISTINE LAUTERBURG & RES MARGOT Im Naturjutz ist auch Dreck drin Die 36jährige Berner Schauspielerin und Jodlerin Christine Lauterburg gilt als eigenwillige Interpretin des Jodlers. Die ehemalige Lehrerin kam sehr spät auf die Schweizer Folklore. 1986 besuchte sie einen Jodlerkurs in der Migros-Klubschule, profitierte von den Ratschlägen der Jodlerin Sonja Aebi und - trotz (oder zum Glück) beachtlicher Erfolge am kantonalen Jodlerfest in Langenthal - ist sie nicht im Schloß traditioneller Chörli gelandet. Mit ihren unkonventionellen Statements tun sich vor allem die Funktionäre des Eidgenössischen Jodelverbandes schwer. Ein wirklicher Naturjutz hat auch Dreck drin. Interview aus der Fabrik-Zeitung (Kulturzentrum Rote Fabrik, Zürich) Nr. 83, Juni 1992. Die Leute Deiner Szene haben mit dem Jodeln große Mühe. Der Flamenco hat eben mehr Feuer. Vielen sind Jodellieder eben zu bejahend. Sie stören sich an der demütigen Haltung, die oft in den Texten ausgedrückt werden. Ein wirklicher Naturjutz hat auch Dreck drin. In den Vokalen höre ich wahnsinnig viel Anklage. Wer hinstellt und einen Jutz losläßt, ist nicht nur froh, er verschafft sich auch Luft. Ich orientiere mich nicht am kommerziellen Brauchtum. Gerade im Fernsehen muß immer à tout alles fröhlich sein. Von der Schweiz wird ein Idyll gemalen. Schon als Kind habe ich immer abgeschaltet. Das ist nur noch Postkarte und hat nichts mehr zu tun mit etwas Gelebtem. Manche Jodlerinnen und Jodler geben einfach einen Jodel wieder, es wirkt fast mechanisch. Für mich wird das schnell langweilig. Ich bin ein Mensch und erlebe Leid und Freud. In der Musik möchte ich von beidem etwas hören. Der Jodlerverband wirft Dir vor, daß die Vokalisation Deiner Jodler nicht hauptsächlich auf "o" und "u" liegt, wie er in seinen Kursen lehrt. Du trittst auch mit Housi Wittlin, einem Berner Szene-Musiker, auf. Was hat das mit unserer Volksmusik zu tun? Live spielt er eine schmierige Rock-Gitarre - zu Deiner wundervollen Jodelstimme. Wittlin hält überhaupt nichts von Perfektion. Ist das nicht schade?Das Dreckige seiner Gitarre gefällt mir. Eine perfekte Begleitgruppe wäre zu viel des Guten. Mich interessiert der Widerspruch, mit etwas anderem als mir zu kommunizieren. Seine Mundarttexte lassen viel Raum. Auch bei Auftritten kann er diese Stimmung verbreiten; er macht nicht große Kunst, sondern beginnt gleich, mit den Leuten zu reden. Die Leute können ihn auch überdenken, sie werden nicht verarscht. Housi macht sich auch nie auf Kosten einer Gruppe lustig. Dafür lachen die Leute, wenn Du Jodellieder singst, die nicht von Dir stammen. Singst Du sie zum Spott? Die lachen doch, weil Du im Mini-Jupe singst "Im Summer gang i go hüete, und ufs Bergli det äne id Flüe". Kaum hat Du vor fünf Jahren zu jodeln begonnen, erschien schon die erste Platte. Weihnachten 91 erschien nun im Zytglogge-Verlag eine eigene LP von Dir, die "Schynige Platte". Es tönt teilweise so, als wolltet ihr den Gipfel mit dem Allrad-Jeep erklimmen. Portable-TV, Auto-Radio und Motorsäge sind aber unüberhörbar. "Wer jodelt sich da neben den Wohlklang? Wer klebt die Stimme atemberaubend sicher einen Halbton neben jedes harmonische Wohlempfinden?" so der Journalist Christian Seiler zu erwähnten LP - "Schynige Platte" von Christine Lauterburg und Res Margot, die neu arrangierte, traditionelle und neue Jodellieder enthält und zu den interessantesten wie umstrittensten Volksmusik-Dokumenten in der Schweiz zählt. Für viele am radikalsten muten vielleicht jene Passagen an, in welchen das Duo auf älteste überlieferte Tonfolgen zurückgreift und diese mit ausführlichen Improvisationsteilen und Synthesizer-Naturtonharmonien verschmelzt.
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